Interview Missbrauch im Netz: "Aus Ansprechpartnern werden Täter"
Pädophile Täter informieren sich in den Chatprofilen über ihre Opfer, sagt die Psychologin Julia von Weiler. Sie gewinnen dann das Vertrauen der Jugendlichen.
taz: Frau von Weiler, welche Altersgruppe ist am stärksten gefährdet und wieso?
Julia von Weiler: Am meisten gefährdet sind Kinder und Jugendliche zwischen 10 und 15 Jahren. Sie fangen an, sich selbstverständlich in Chatrooms und sozialen Netzwerken zu bewegen. Die Frage, wie sie sich schützen können, stellt sich ihnen zunächst nicht.
Mag sein, aber die Kids lernen auch bald die Privatheitsregeln des Netz kennen.
Ja, über die Privatsphären-Einstellungen können sie bestimmen, wer von den Besuchern was sehen darf. Gleichzeitig haben sie aber so viele Onlinekontakte - 144 im Schnitt -, dass sie oft schnell den Überblick verlieren. Wenn allein "Freunde und Freunde meiner Freunde" Fotos sehen können, multipliziert sich das bei 144 Freunden im Durchschnitt auf über 20.000. Das überblickt keiner mehr.
Julia von Weiler, ist Psychologin und leitet die deutsche Sektion von "Innocence in Danger", einem Netzwerk gegen sexuellen Missbrauch, das die Verbreitung von Kinderpornografie im Internet bekämpft. Sie arbeitete im "Childrens Safety Project" in New York und in der "Mädchenvilla" Beckum, der ersten Wohngruppe für missbrauchte Mädchen. Von Weiler ist auch im Team der umstrittenen RTL2-Sendung "Tatort Internet".
Dieser Text stammt aus der größten deutschen Schülerzeitung Q-rage. 24 Jugendliche zwischen 16 und 20 Jahren aus ganz Deutschland haben für die Organisation "Schule ohne Rassismus, Schule mit Courage" eine Ausgabe zu Liebe und Sex in der Einwanderungsgesellschaft gestaltet. Q-rage geht am Freitag in einer Auflage von 750.000 an alle deutschen Sekundarstufen (und wird übrigens auch der Freitagsausgabe der taz beiliegen). Die Jugendlichen suchen und recherchieren die Themen selbst und werden beim Schreiben von (Ex-)taz-RedakteurInnen betreut.
Kontakt zur Q-rage 2011: Qrage@taz.de
Gut, was hat das mit den Pädophilen im Netz zu tun?
Mögliche Täter und Täterinnen erfahren über diese Profile sehr schnell sehr viel über die Jugendlichen. Sie können so gezielt auf ihre Interessen eingehen, der erste Schritt wird ihnen so leicht gemacht.
Was bringt Jugendliche dazu, mit deutlich Älteren zu chatten und dabei intime Details auszutauschen?
Täter oder Täterinnen können auch online eine Beziehung aufbauen. Sie interessieren sich für alles, was Jugendliche beschäftigt. Sie geben sich als jugendlich aus, machen sich vielleicht ein wenig jünger, verschweigen, dass sie verheiratet sind und Kinder haben. Oder sie sagen, sie seien in ihrem Beruf sehr erfolgreich. Mit der Zeit werden sie ein wichtiger Ansprechpartner - und das nutzen sie dann, um nach und nach über sexuelle Dinge ins Gespräch zu kommen. Von da ist es nur noch ein Schritt zu sexuellen Handlungen.
Die Täter begegnen den Jugendlichen auf Augenhöhe?
Ja, und genau das ist so gemein. Denn wir alle wünschen uns doch Menschen, die sich für uns interessieren und denen wir vertrauen können.
Welche Chatforen sind am gefährlichsten?
Nach wie vor wird uns viel über Knuddels.de berichtet. Im Prinzip sollte man schauen, ob in den Chats genügend Moderatoren als Ansprechpartner vorhanden sind. Und ob es dort so etwas wie einen "Alarmbutton" gibt, über den man sich - wenn man in Not geraten ist - Hilfe holen kann.
Was sollen Jugendliche beim Chatten im Internet beachten?
Sie sollten ihrem Gefühl vertrauen. Wichtig ist, sich nicht zu Dingen verleiten zu lassen, bei denen sie sich unwohl fühlen. Sie müssen sich klarmachen, dass im Netz alles wahr sein kann - oder auch nicht. Das ist für uns alle schwer. Im Netz können wir leichter lügen und unsere Rolle verlassen. "Im Netz kann ich all das sein, was ich nicht bin: cool, schön, schlagfertig, sexy", sagte mal eine Jugendliche zu mir. Das gilt auch für das Gegenüber.
Was können Eltern tun, um ihre Kinder zu schützen?
Eltern müssen ihre Kinder aufklären. Vage Umschreibungen sind keine Hilfe. Kinder müssen außerdem wissen, dass es in Ordnung ist, darüber zu sprechen. Sie müssen darauf setzen können, dass Erwachsene ihnen helfen, wenn sie sich anvertrauen. Bis zu 90 Prozent aller sexualisierten Übergriffe finden im sozialen Umfeld des Kindes statt - da gehören der Chatroom oder das soziale Netzwerk längst dazu. Hier haben Täter und Täterinnen direkten Zugriff auf das Kind.
Wie sollen Eltern reagieren, wenn ihre Kinder Opfer eines sexuellen Übergriffs werden?
Eltern sollten Ruhe bewahren, so schwer das sein mag. Sie sollten den Jugendlichen zuhören. Es wäre ganz falsch, ihnen im ersten Schreck die Schuld zu geben. Wir müssen in diesem Moment für Kinder und Jugendliche da sein. Eltern sollten zugleich aber auch begreifen, wie schamvoll das alles für die Jugendlichen ist. Wenn die Vermutung besteht, dass ein Kind sexuell missbraucht wird, hilft die Infoline N.I.N.A. Oder andere Nottelefone wie "Sprechen hilft!".
Was können Opfer tun, welche Anlaufstellen gibt es?
Es ist wichtig, sich jemandem anzuvertrauen - auch wenn das schmerzt und man sich schämt. Niemand hat das Recht, Kindern und Jugendlichen mit Worten oder Taten wehzutun. Die Schuld und auch die Verantwortung liegen bei den Tätern. Also, auch wenn es schwer fällt, bitte nicht den Mut verlieren und sich Hilfe suchen!
Wie können sich Jugendliche schützen?
Das Internet ist ein eigener Raum. Also gilt es, klug zu sein mit dem, was Jugendliche im Internet über sich offenbaren, und auf sein Gefühl zu achten. Sobald sich jemand auffällig intensiv vor allem um deine Sorgen kümmert, dann kann das ein Signal sein. Dazu gehören dann auch übertriebene Komplimente - vor allem wenn sie sich auf Aussehen oder Körper beziehen und wenn dabei dann Sex zum Thema wird. Wenn jemand großzügige Geschenke anbietet oder Angebote macht, die sich einfach zu gut anhören, sollte man misstrauisch werden. Dann sollten Kinder misstrauisch werden - und am besten mit einer erwachsenen Vertrauensperson darüber sprechen.
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