Internet-Projekt 1000 Scores: Ich im Überfluss
Das Internet-Projekt 1000 Scores ermöglicht künstlerisch gesteuerte Selbsterfahrung, kostenlos und für alle. Trotzdem ist die Hürde dahin hoch.
Ich bin kein Freund davon, journalistisch in der „Ich“-Form zu schreiben. Ich glaube nicht, dass der*die Leser*in sich für mich als Individuum interessiert. Ich glaube, interessant ist, was Journalist*innen Kraft ihrer Kompetenz über die Welt zu sagen haben – und nicht, was es mit ihnen persönlich macht.
Über „1000 Scores“ allerdings lässt sich nur in „Ich“-Form schreiben. Es geht nicht anders. 1000 Scores ist konzipiert als Internetprojekt. Auf der Website – www.1000scores.com – gibt es rund 80 Bilder zum Draufklicken. Hinter jedem Bild steht ein Score, das ist in diesem Fall keine Partitur für ein Musikstück, sondern ein Text oder ein Video oder eine Tonspur mit einer Handlungsanweisung. Die richtet sich an jeden, der sich auf dieses Projekt einlassen will. 1000 Scores ist ein Mitmachprojekt.
Die Handlungsanweisungen sind ungefähr eine Seite lang und sehr unterschiedlich. Mal geht es darum, zwei Hausmauern zu finden, und sich zwischen ihnen hin und her zu bewegen, während man eine Trommel schlägt. Mal ist der Auftrag, mit seinen Lieblingsmöbeln Erinnerungen zu teilen, mal geht es um das Verschließen von Türen, als würde man ein Kapitel seines Lebens für immer schließen. Mal um bewusstes Blinzeln. Mal um das Erforschen des eigenen Herzschlags.
Alle Scores stammen von Künstler*innen, vor allem aus dem Bereich der Performance. Sie leben verteilt auf der Welt, es sind welche aus Kairo dabei, aus Toronto und aus Berlin. Alle Scores sind auf Englisch.
Aus Hamburg macht Annika Kahrs mit. Ihre Handlungsanweisung ist: mit dem Handy Musik aufnehmen, die aus Lautsprechern im öffentlichen Raum kommt, und diese Aufnahmen mit höchster Aufmerksamkeit zu Hause durchhören. Es ist der Versuch, die öffentlich eingesetzte Musik zurückzuerobern – Musik, die beispielsweise am Hamburger Hauptbahnhof dafür eingesetzt wird, unerwünscht rumhängende Personen zu vertreiben.
Kunstpraxis von Marcel Duchamp
Administriert wird das Projekt vom Rimini Apparat, das ist das Produktionsbüro der Performance-Gruppe Rimini Protokoll. Urheber*innen des Projektes sind Helgard Haug, David Helbich und Cornelius Puschke, wobei Helbich und Puschke keine Mitglieder von Rimini Protokoll sind. Beide stammen aus Bremen, wo ihre Familien durch die Kirchenmusik am Bremer St.-Petri-Dom miteinander verbunden waren; Puschke arbeitet heute als freier Dramaturg in Berlin, Helbich ist Komponist in Brüssel.
Die Idee ist angelehnt an eine Kunstpraxis von Marcel Duchamp. Der schickte 1919, als auch gerade eine Pandemie herrschte, Anweisungen für ein Kunstwerk an seine Schwester in Paris. Sie sollte ein Lehrbuch für Geometrie so auf dem Balkon drapieren, dass es Wind, Regen und Sonne ausgesetzt war – und die Elemente aufmischen konnten, was sich der Mensch erdacht hatte.
1000 Scores ist aber kein Duchamp-, sondern ein Lockdown-Projekt. Jede Handlungsanweisung lässt sich kontaktfrei ausführen. Der Künstler ist hier keiner, der leibhaftig in Erscheinung tritt und etwas darbietet, er ist der, der in Abwesenheit Handlungsanweisungen gibt für das Publikum, durch dessen Mitwirkung die Performance erst Wirklichkeit wird. Es ist ein Angebot, die Welt anders wahrzunehmen, als man das bisher getan hat. Eine Wahrnehmungsübung durch Fernsteuerung.
Allein: Du bleibst allein damit. 1000 Scores ist eine Selbsterfahrung, die du nur mit dir teilst.
Zudem ist 1000 Scores eine Überforderung. Ich behaupte: Die meisten Menschen haben wie ich den Impuls, sich einen Überblick über das Angebot verschaffen zu wollen, um dann zu entscheiden, welche Scores man ausprobieren will. Aber das geht nicht. Dafür ist das Angebot zu groß – das übrigens seit dem Launch der Site im Juni 2020 immer weiter wächst.
Die Selbsterfahrung fängt also schon damit an, sich für eine Selbsterfahrung entscheiden zu müssen. Das ist die erste Hürde und ich bin an ihr bereits gescheitert. Bis ich verstand, dass ich aus der Fülle eine Zufallswahl treffen muss, um irgendwie anzufangen, war die Zeit, die ich hatte, verstrichen. Lockdown heißt ja nur für manche Menschen, dass sie auf einmal mehr Zeit haben. Andere haben weniger – und für diese Menschen ist 1000 Scores nicht gemacht.
Grundsätzlich hat mir die Idee gut gefallen: ein Wahrnehmungsexperiment mit mir selbst, ohne mich dabei viel zu bewegen. Das Angebot, auszusteigen aus der Routine und sich auf etwas einzulassen – mit der Besonderheit, dass dieses Etwas das eigene Selbst ist. Was die Frage aufwirft, wo die Grenze verläuft zwischen Kunst und Selbsterfahrung und ob es Spaß macht, über diese Grenze gestoßen zu werden.
Persönlich warm geworden damit bin ich – als an der ersten Hürde Scheiternder – nicht. Aber es gibt etwas, für das man 1000 Scores loben muss: Es ist ein kontaktloses Kunstprojekt, dessen Konzept einleuchtet. Die Digitalität des Projekts ist kein Notbehelf, sondern sinnvoll. 1000 Scores hat eine eigene Qualität, im Gegensatz zu all den Streams von publikumslosen Live-Veranstaltungen, die aus meiner Sicht keine Lösung sind für Kultur in Zeiten der Pandemie.
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