Integration von Geflüchteten: Gut angekommen
Die Kinder nennen sie Miss Tara. Vor zwei Jahren floh Masoume Taravatipak aus dem Iran. Heute arbeitet sie als Lehrerin in Brandenburg.
Ein Mädchen, auf deren Tisch ein Kuscheltier mit großen Glubschaugen liegt, antwortet: „Miss Tara is in the box.“ Und Miss Tara, die immer noch kerzengerade im Karton steht, lächelt und nickt. Das war die richtige Antwort. Miss Tara ist im Karton. Dann steigt sie wieder heraus, greift den Karton und streckt die Arme hoch. Die Frage, wo Miss Tara ist, wird immer wieder aufs Neue beantwortet. Mal ist sie in, unter, neben oder hinter dem Karton. Nur wer ist sie eigentlich?
Miss Tara heißt in Wirklichkeit Masoume Taravatipak. Aber die Schüler nennen sie Miss Tara, weil der Nachname mit den vielen Buchstaben für sie so ungewohnt klingt. Vor etwa zweieinhalb Jahren, im Oktober 2015, floh sie gemeinsam mit ihrem Mann aus dem Iran – aber dazu später mehr. Und nun, seit November 2017, arbeitet die Dreißigjährige als Assistenzlehrerin an der Ingeborg-Feustel-Grundschule in Blankenfelde-Mahlow. Das, was hier in der Gemeinde mit rund 27.000 Einwohnern im südlichen Brandenburg passiert, ist eine unvergleichliche Geschichte über Mühe und Integration.
Anderthalb Jahre lang hat Taravatipak am Refugee Teachers Program der Universität Potsdam teilgenommen. Es ist das erste Pilotprojekt Deutschlands, das geflüchtete Lehrer und Lehrerinnen wieder an Schulen bringen möchte. Finanziert wird es bis zum März nächsten Jahres vom Brandenburger Wissenschaftsministerium und vom Deutschen Akademischen Austauschdienst. Mittlerweile hat die Universität Bielefeld ein ähnliches Projekt auf den Weg gebracht.
Integration fördern, die Bildungsmisere lindern
Die Idee ist angesichts des Lehrkräftemangels schlüssig. Die Schülerzahlen steigen, immer mehr Lehrkräfte gehen in Rente und an den Universitäten wird nicht genügend Nachwuchs ausgebildet, um diese Lücke zu schließen. In Brandenburg fielen im Schuljahr 2016/ 17 nach Angaben des Brandenburger Bildungsministeriums rund 255.000 Unterrichtsstunden aus – mit 2,1 Prozent der Höchststand seit zehn Jahren. Das Refugee Teachers Program kümmert sich so gesehen um zwei Probleme der Bundesrepublik: die Integration von Geflüchteten und die Misere im deutschen Bildungssystem.
Durch Zufall erfuhr Taravatipak in der Flüchtlingsunterkunft in Eisenhüttenstadt, in der sie kurzzeitig untergebracht war, von diesem Programm. In Teheran hatte sie in einem privaten Englischinstitut Kinder, Teenager und Erwachsene unterrichtet. Sie bewarb sich. Beim ersten von vier Durchgängen flatterten über 600 Bewerbungen aus ganz Deutschland ein. Taravatipak gehörte zu den 50 Auserwählten, die im April 2016 starteten. Dann ging das Pauken los: Schulpädagogik, Fachdidaktik, ein begleitendes Hospitationspraktikum und vor allem Sprachintensivkurse.
Masoume Taravatipak
Am Ende des anderthalbjährigen Programms sollen die Teilnehmenden das Sprachniveau C1 erreichen. Sie sollen also in kürzester Zeit anspruchsvolle Texte verstehen und sich fließend ausdrücken können. Von den anfänglichen 50 blieben am Ende nur noch 26 übrig, fast die Hälfte brach ab. Und selbst von denen, die dabeigeblieben sind, haben es nur 14 im geplanten Zeitrahmen geschafft, viele müssen die C1-Prüfung wiederholen. Im September 2017 wurden die ersten Absolventen und Absolventinnen feierlich verabschiedet. 14 haben bereits einen Vertrag als Assistenzlehrkraft an einer Brandenburger Schule, so wie Taravatipak. Sie hat das Unglaubliche geschafft. Zwei Jahre nach ihrer Flucht arbeitet sie an einer Grundschule und wird nach Tarif bezahlt.
Als Assistenzlehrerin unterstützt sie die Englischlehrerin Silvana Green. Aber auch Mathe und Deutsch stehen auf ihrem Stundenplan. Während des Englischunterrichts schaut Taravatipak, wo Hilfe gebraucht wird, flüstert einzelnen Kindern etwas ins Ohr. Die Lehrerin Miss Green unterrichtet fernab des traditionellen Frontalunterrichts. Es wird spielerisch gelernt, gesungen, geklatscht und Taravatipak ist bei allem mit Einsatz dabei. Bei einer Übung müssen die Kinder sich Schlafmasken aufsetzen, ihre Mitschüler ertasten und auf Englisch reden. Nach Ende der Übung ruft ein Junge: „Ach schade, das macht so Spaß!“
Der Dinosaurier unter der Dusche
Gegen halb zwölf, nach einem kurzen Austausch mit Frau Green, öffnet Taravatipak die Tür des Klassenraums. Sechs Kinder flitzen in den Flur und lassen sich im Kreis auf den Boden plumpsen, Taravatipak setzt sich im Schneidersitz dazu. In der Hand hält sie einen Stapel Karten und einen Würfel. Auf den grünen Karten sind Möbelstücke abgebildet, auf den orangefarbenen Spielsachen. Auf dem Würfel stehen Präpositionen. Taravatipak sortiert die Karten, dann sagt sie: „Okay, Tabea“ und drückt ihr den Würfel in die Hand. Das Mädchen würfelt und schaut gespannt, was darauf steht: „under“, unter. Dann zieht Tabea zwei Karten: Ein Dinosaurier und eine Dusche sind darauf zu sehen. Das Mädchen sagt nun: „The dinosaur is under the shower.“ Der Dinosaurier ist unter der Dusche. Verschmitztes Lächeln huscht über die Kindergesichter. Taravatipak freut sich, klatscht kurz in die Hände, streicht dem Mädchen kurz über den Rücken und sagt: „Sehr gut“. Das gleiche Spiel, jedes Kind kommt dran, reihum. Es scheint, als hätte Masoume Taravatipak ihren Platz gefunden. Hier in Blankenfelde-Mahlow, im Flur des zweiten Stocks zwischen grünen Spinden.
Auch nach dem Unterricht bleibt die gute Stimmung erhalten, zwanzig Kinder kramen ihr Zeug zusammen und huschen raus in die Pause. Frau Green und Miss Tara werfen sich einen Blick zu. Sie wirken zufrieden. Die Lehrerin Silvana Green lehnt sich an einen Tisch und sagt: „ Ich arbeite gerne mit Miss Tara zusammen. Sie hat das, was man zum Unterrichten braucht.“ Taravatipak schaut verlegen und bedankt sich. Sie sagt: „Frau Green hat mich immer unterstützt, nicht nur sie, alle hier in der Schule.“
Nach dem Unterricht geht Taravatipak in den ersten Stock, wo die Flurspinde rot sind, öffnet die Tür eines leeren Raumes und setzt sich, um ihre Geschichte zu erzählen. Sie ist in Ghom geboren, einer Stadt im Iran, gute 130 Kilometer südlich von Teheran. Im Oktober 2015 floh sie mit ihrem Mann – aus zwei Gründen: Erstens leidet ihr Mann an Hämophilie, auch als Bluterkrankheit bekannt. Durch die schwierige Wirtschaftslage im Iran seien seine Medikamente nicht immer verfügbar.
Zweitens, so erzählt sie, saß ihr Mann, ein Programmierer, bereits einmal wegen einer kritischen Äußerung im Internet ohne Anklage für 40 Tage im Gefängnis. „Er wurde gefoltert und geschlagen. Er hat seine Medikamente nicht bekommen. Sein Körper war, als er rauskam, einfach kaputt.“ Als ihm 2015 erneut Gefängnis drohte, war für beide klar: Sie geben ihr Leben im Iran auf, fliegen in die Hafenstadt Izmir an der türkischen Ägais und steigen in ein Schlauchboot Richtung Griechenland. Dann Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien, Österreich, Deutschland. Irgendwann auf dem Weg legte sie ihr Kopftuch ab, erzählt sie. Heute hat sie ihre braunen Haare zu einem lockeren Zopf gebunden. Sie lächelt kurz. „Diese Luft in den Haaren nach so vielen Jahren! Viele iranische Frauen wollen das Kopftuch tragen und werden glücklich damit, aber mich hat es jeden Tag gestört. Ich wollte frei leben.“ Ihre Augen werden glasig, sie sieht müde aus.
Vier Sprachen gehen in einem Kopf durcheinander
Es ist das erste Mal bei dieser Begegnung, dass die ganze Anstrengung, die sie hinter sich hat, durchschimmert. Sonst scheint alles an dieser Frau so perfekt zu sein, nicht nur ihr Werdegang in Deutschland, auch ihr Aussehen, dezent geschminkt, gepflegte Haut und Haare, schön gekleidet. Taravatipak macht kleine Fehler beim Deutschsprechen, kommt durcheinander mit den Vergangenheitsformen, rutscht immer wieder ins Englische. Irgendwann sagt sie etwas frustriert: „In meinem Kopf sind vier Sprachen durcheinander. Meine Sprache ist mein weakness.“ Ihre Schwäche. In ihrer Familie wird Türkisch gesprochen, im Iran Persisch, sie unterrichtete in Teheran Englisch, hier lernte sie Deutsch im Turbodurchlauf.
„Am Anfang“, sagte sie, „wollte ich so sein wie eine deutsche Lehrerin. Ich wollte perfekt sein. Aber ich wusste nicht einmal, wie alle Stifte im Federmäppchen heißen. Ich kannte nur Bleistift und Kugelschreiber. Oder diese ganzen Verben beim Basteln! Schneiden, anschneiden, ausschneiden, einschneiden, das war alles so viel für mich.“
Manchmal fragte sich Taravatipak dann, ob sie nicht doch lieber in einer Bäckerei arbeiten sollte. Brote backen, irgendetwas mit den Händen machen. „Aber die Kinder sind sehr lieb zu mir, sie korrigieren mich, wenn ich Fehler mache. Ich bin vielleicht wie eine ältere Freundin für sie. Sie machen mir oft Komplimente, zu meiner Kleidung oder meinem Schmuck aus dem Iran.“ Auf ihrem senfgelben Pullover trägt sie eine Brosche in Form eines Schutzengels.
Masoume Taravatipak
Taravatipak ist geflohen, hat Deutsch gelernt und eine gut bezahlte Arbeit gefunden. Sie hat in zwei Jahren mehr geschafft als andere, die hier geboren sind, jemals erreichen werden. Ob sie irgendwann vor ihrer eigenen Klasse stehen wird, wird die Zukunft zeigen. Taravatipak sagt: „Wenn ich in der Schule bin, vergesse ich alles. Dass ich Flüchtling bin, dass ich keine eigene Wohnung habe und keine eigene Toilette. Draußen im Wohnheim kommt die Einsamkeit.“
Etwas später wirft sie sich ihre braune Ledertasche um, geht ins Sekretariat und verabschiedet sich. Heute musste sie nicht ihr normales Programm machen. Sie geht vorbei am Eingangsschild der Schule, die nach Ingeborg Feustel benannt ist – jener Schriftstellerin, die nach dem Zweiten Weltkrieg von den Alliierten außerhalb eines Studiums ausgebildet und dann in Blankenfelde als sogenannte Neulehrerin eingestellt wurde, um zu verhindern, dass Lehrkräfte mit NS-Vergangenheit weiter unterrichten.
Rassismus hat Taravatipak noch nicht erleben müssen
Taravatipak lädt auf einen Tee zu sich nach Hause ein, und während sie durch die Straßen geht, erzählt sie, dass sie sich wundert, dass Deutsche nie Obst von den Bäumen pflücken, die am Wegesrand stehen, dass sie Radfahren gelernt hat, nachdem einmal ein Kind an ihr vorbei fuhr. Und bevor sie nach Deutschland kam, hatte sie so eine Vorstellung, dass hier alle in Militäruniformen rumlaufen. Sie lacht und sagt: „Wir haben alle unsere Vorurteile. Aber Rassismus habe ich hier nie erlebt. Ich fühle mich ganz sicher. Die Leute in Blankenfelde sind sehr nett. In der Schule, in der Apotheke, im Ärztehaus, im Aldi, überall. Ich fühle mich blankenfelderisch – sagt man das so?“
Das Flüchtlingswohnheim ist keine fünf Minuten von der Schule entfernt. Ein umzäuntes Gelände, darauf ein schlichter, langgezogener zweistöckiger Neubau, weiß gestrichen. Taravatipak zeigt auf die Balkone, die nachträglich angebaut wurden, und grinst: „Es gibt keine Türen zu den Balkonen, sehen Sie? Man muss durch die Fenster klettern.“ Auf dem Gelände bleibt sie alle paar Meter stehen, Salam aleikum, kurzer Wortaustausch. „Hier leben Menschen aus aller Welt, aus Syrien, Afghanistan, Eritrea, das ist sehr schön.“
Dann geht sie ins Gebäude, hoch in den zweiten Stock. In den Fluren hängen Gerüche von Gewürzen in der Luft. In der karg eingerichteten Gemeinschaftsküche steht ein Mann und schnipselt Gemüse. Außer ein paar Herdplatten und einem Waschbecken gibt es in dem Raum nicht viel. Taravatipak geht vorbei an den Duschen für Frauen, in denen zerfledderte Vorhänge hängen, hin zu ihrem Zimmer. Ihr Privatleben ist in vielleicht zwölf Quadratmeter gepresst. Hier lebt sie gemeinsam mit ihrem Mann seit zwei Jahren. Ausrangierte Möbel aus einem Hotel, das Bett wurde ihr von einer Bekannten geschenkt. An der Wand hat sie Bilder von ihrer Familie hängen, die bis heute nicht weiß, dass sie als Flüchtling in Deutschland lebt. Die nicht weiß, dass sie ihr Kopftuch abgelegt hat, die nicht weiß, dass sie sich hat taufen lassen und sonntags manchmal in die Kirche geht, um „auszuatmen“. Dann sagt sie traurig: „Meine Familie ist sehr konservativ und nationalistisch, sie würden das nicht verstehen.“ Sie schickt ihr meistens nur Bilder von Landschaften, damit sie sie nicht mit offenen Haaren sehen.
Taravatipak macht einen schwarzen Tee, kramt aus einem Schrank Pistazien, Cashewnüsse und Süßigkeiten heraus und stellt sie auf den Tisch. Es wirkt fast so, als würde Taravatipak mindestens drei Leben parallel führen. Ihr Leben mit ihrer Familie im Iran, ihr Leben als Geflüchtete im Wohnheim, ihr Leben als Miss Tara. Wenn sie so vor einem sitzt, ist es kaum vorstellbar, dass sie am Morgen hier im Flüchtlingswohnheim vor dem Spiegel stand, bevor sie zur Schule aufgebrochen ist. Sie ist auf der Suche nach einer Wohnung, aber bislang hat nichts geklappt. Erst im Mai, nach diesem Treffen, hat sie ihren Aufenthaltstitel für die nächsten drei Jahre bekommen. Das wird ihre Suche vermutlich erleichtern.
Aber beschweren will sich Taravatipak nicht. Sie sagt: „Andere hier im Wohnheim sitzen nur herum und können nichts machen. Ich habe Arbeit.“ Ihre Stimme wird leiser, als sie hinzufügt: „Aber ich würde gerne mal ins Bad gehen, wenn ich möchte, ohne warten zu müssen, bis es frei ist.“ Dann guckt sie zum Fenster, durch das man in der Ferne die Baumwipfel eines Waldes sieht, und sagt: „Ich mag diesen Blick. Nicht weit von hier ist der See.“
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