Integration französischer Juden in Israel: Flucht vorm antisemitischen Alltag
Eine Rekordzahl französischer Juden wanderte im vergangenen Jahr nach Israel aus. In der Mittelmeerstadt Netanja fanden viele eine neue Heimat.
Hauptgrund sind die antisemitischen Übergriffe, deren Zahl in Frankreich bereits vor dem Anschlag Anfang des Jahres in der Hauptstadt deutlich zugenommen hatte. Viele der Auswanderer suchen ihr Glück in der Stadt Netanja am Mittelmeer, gerne auch „israelische Riviera“ genannt.
2014 kamen nach Angaben der für Einwanderung zuständigen Jewish Agency die meisten der Menschen, die nach Israel emigrierten, aus Frankreich – 7.200 Personen, doppelt so viel wie im Jahr zuvor. Rund 2.000 von ihnen ließen sich in Netanja nieder.
Dort ist der französische Einfluss inzwischen unübersehbar: Werbung und Infotafeln gibt es auch in französischer Sprache, ebenso Speisekarten in Restaurants. Bäckereien haben eröffnet, in denen es Baguette und Croissants zu kaufen gibt. Auf der Strandpromenade und in Cafés sprechen fast mehr Menschen miteinander französisch als hebräisch.
„Kein Ort, um jüdische Kinder aufzuziehen“
Die meisten sind hierhergekommen, weil sie antisemitische Übergriffe in ihrer früheren Heimat fürchteten. Wie Fanny Rhoum, die drei Tage nach dem Anschlag im Januar in Paris nach Israel flog, um dort ihre Auswanderung vorzubereiten. „Hier haben wir das Gefühl, dass wir uns selbst verteidigen können“, sagt sie. „Dort hatten wir den Eindruck, dass wir auf uns selbst gestellt sind.“
Wie Rhoum ist auch die 63-jährige Jeanette Malka vor wenigen Tagen für immer nach Israel gegangen. Sie habe mit der Auswanderung gewartet, bis sie verrentet worden sei, erzählt sie. Nun hofft sie, dass ihre Kinder und Enkel bald nachkommen. „Es ist kein Ort, um jüdische Kinder aufzuziehen“, sagt sie über Frankreich. Ihr Mann Chaim trägt eine Kippa - etwas, wie er berichtet, was er sich in Paris öffentlich nie getraut hätte.
Seit dem Holocaust hätten sich Juden in Europa nicht mehr so bedroht gefühlt wie jetzt, haben Experten festgestellt. Übergriffe gab es in Belgien, Dänemark und anderen Staaten, nirgendwo aber so viele wie in Frankreich. Täter waren häufig islamische Extremisten. In einigen Fällen hatte das Motiv, das hinter den Taten stand etwas mit der israelischen Politik in Bezug auf die Palästinenser zu tun, meist aber waren es antisemitische Übergriffe.
In Frankreich leben etwa 500.000 Juden – es ist die größte jüdische Gemeinde in Europa. Der Anteil der Juden an der französischen Bevölkerung macht etwas weniger als ein Prozent aus; aber etwa 50 Prozent der rassistisch motivierten Angriffe in dem Land richteten sich 2014 offiziellen Angaben zufolge gegen sie.
Netanja hat sich auf Neuankömmlinge eingestellt
Ariel Kandel von der Jewish Agency berichtet, nach dem Anschlag auf eine jüdische Schule in Toulouse 2012, bei dem drei Kinder und ein Rabbi ums Leben gekommen waren, sei die Zahl jüdischer Einwanderer aus Frankreich in die Höhe geschnellt.
Nach der Ermordung der vier Juden im Pariser Supermarkt in diesem Januar - die mit einer Geiselnahme verbundene Tat ereignete sich kurz nach dem Anschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ – hatte der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu die Juden in Frankreich öffentlich aufgerufen, nach Israel zu kommen. Die französischen Behörden hatten darauf mit Empörung reagiert.
Aber seitdem hat sich im Vergleich zum Vorjahreszeitraum die Zahl der französischen Juden, die nach Israel auswandern wollen, noch einmal um zehn Prozent erhöht. Viele von ihnen werden nach Netanja kommen.
Dort hat man sich auf die Neuankömmlinge eingestellt, wie Freddo Pachter sagt, der für die Integration der Franzosen zuständig ist. Viele von ihnen sprechen nur Französisch, also gibt es alle notwendigen Informationen in französischer Sprache; in Schulen und Unternehmen werden ebenfalls Menschen eingestellt, die Französisch sprechen.
Die Einwanderer aus dem europäischen Land sind höchst willkommen, denn meistens handelt es sich um ausgebildete Fachkräfte mit zionistischen Idealen. „Israel will in sie investieren, weil feststeht, dass sie bleiben werden“, sagt Pachter. Es handele sich um eine Investition, die sich langfristig auszahlen werde.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben