Innenansichten eines Geflohenen: Das Gedächtnis macht Zahnschmerzen
In der U-Bahn in Berlin. Der Kopf in Rakka. Hier sucht unser syrischer Autor nach einem Netz für sein Handy. Und dort brennt die Welt.
Am meisten habe ich mich früher auf die Feiertage gefreut. Dann bin ich immer von zu Hause ausgebüxt und auf den Mâkif-Markt gegangen. So heißt der Viehmarkt in Rakka.
MeinVater, ein Tierarzt, erklärte den Leuten, die zu ihm in die Praxis kamen, wie sie den Schafen die Medizin verabreichen sollen. Währenddessen aß ich, auf einem Plastikstuhl sitzend, ein Sandwich, belegt mit Kebab und Tomaten. Ich mochte keine Schafe, weil sie nicht mit mir spielen wollten. Sie standen nur da und atmeten mit der Luft den Geruch vom gegrillten Fleisch ihrer Artgenossen ein. Ich bot ihnen ein Stück von meinem Sandwich an. Keine Reaktion.
Ich hasse mein Gedächtnis. Es macht mir Zahnschmerzen. Die Schmerzen fallen über mich her, sobald die U-Bahn sich in Bewegung setzt. Offenbar reagiert mein Gedächtnis auf die Seelen der Toten in den Gräbern, an denen wir zwischen den Stationen vorbeifahren. Hier, in der U-Bahn sitze ich wie ein Schaf auf dem Mâkif-Viehmarkt, völlig apathisch. Ich rieche mein eigenes Fleisch, rieche, wie es gegrillt wird, und warte.
Stolpersteine aus Fleisch
Ich öffne YouTube auf dem Handy. Der Tod treibt sich herum auf den Straßen. Klettert die Bäume hoch in unserem Viertel, schnappt den Kindern den Ball weg, spielt ihn mir zu.
Ich steige aus der U-Bahn, strauchle über die Stolpersteine vor den Häusern. Ich überlege, mir selbst einen Stolperstein anzulegen. Ich will meinen Namen auf ein weißes Blatt schreiben, den Zettel in einen Würfel Fleisch aus meiner Tüte pressen und das Ganze vor unserem Haus in den Boden einlassen.
Mir kommt der Gedanke, alle Stolpersteine auszugraben, die Namen der Opfer zu löschen und durch die Namen von Opfern zu ersetzen, die ich kenne. Aber ich überlege es mir anders. Womöglich verbreitet die Presse dann, dass ein antisemitischer Flüchtling aus Syrien die Holocaust-Geschichte umzuschreiben beabsichtigt, ohne dass jedoch meiner Angst auch nur die geringste Beachtung geschenkt wird. Meiner Angst vor dem Lauf der Geschichte, meiner Angst vor dem gegenwärtig von der Welt an uns verübten Massenmord.
Am 18. März 2011 fanden in der syrischen Stadt Deraa im Süden des Landes die ersten großen friedlichen Protestdemonstrationen gegen Präsident Baschar A-Assad statt. Hier wurden auch die ersten Demonstranten getötet; deswegen gilt Deraa als der Geburtsort des syrischen Revolution.
Für die taz ist der Jahrestag ein Anlass, einmal anders auf Syrien zu blicken. Syrerinnen und Syrer, die heute in Deutschland leben, streiten im taz-Dossier über die Zukunft ihres Landes, setzen sich literarisch mit dem Bürgerkrieg auseinander oder beschreiben tägliche Herausforderungen wie das Telefonieren mit ihren Familien und Freunden, ergänzt von Analysen. Die komplette Ausgabe finden Sie am 18. März gedruckt am Kiosk oder digital am eKiosk.
Die Geschichte rast in meinem Kopf, rast wie die U-Bahn. Ich schließe die Augen. Sehe, wie die Menschen unersättlich Lammfleisch in sich hineinschlingen. Ich öffne die Augen, sehe, wie wir uns selbst verschlingen.
Ich bin immer noch nicht gesund. Gestern habe ich mir einen Inhalator gekauft. In Blau. Ich besprühe meine Kleidung mit feuchtem Sauerstoff, entdecke grüne Stellen an meiner Lunge. Die Luftfeuchtigkeit ist sehr hoch in Berlin. Es riecht moderig. So moderig, wie ich es hier noch nie erlebt habe. Ich bleibe vor einem langen Spiegel stehen, den irgendjemand auf dem Bürgersteig abgestellt hat. Ich trete ganz nah an meinen Körper heran, hauche meine Brust an. Der Atem gelangt nicht in die Lunge. Ich hauche kräftiger. Vergeblich. Viel zu wenig Luft in dieser Welt.
Es riecht faulig, nach gekochten Eiern. Ich gehe weiter, will an meine Lunge greifen, an den grünen Flecken zerren. Wieder in der U-Bahn, hole ich einen kleinen Spiegel aus der Tasche und besehe mir die Gammelflecken. Ich reibe und kratze so lange daran, bis sich die Ränder lösen und entferne sie mit dem Nagelknipser. Ich bin von meinen Krankheiten besessen, beobachte die Augen der anderen Fahrgäste jeden Tag. Beobachte, wie sie in meine Lunge gaffen wollen. Ich hasse meinen Körper. Am liebsten würde ich die glitschigen Adern durchtrennen, die ich ständig mit der Lunge herumtrage. Am liebsten würde ich ins Nichts übergehen, damit dieses monotone Ein- und Ausatmen endlich aufhört.
Überall riecht es nach gekochten Eiern. In Krankenhaus stinkt es unerträglich. Der Arzt erklärt mir, dass ich nicht krank bin, dass ich diesen blauen Inhalator nicht brauche. Ich blase ihm ins Gesicht, zeige ihm Spiegel und Nagelknipser. Völlig umsonst. Der Fiesling glaubt mir nicht.
Ich steige in die U-Bahn. Bitte den Mann auf der Bank gegenüber, den Spiegel zu halten, damit ich besser mit dem Nagelknipser hantieren kann. Ich schneide kleine Stückchen aus dem Grün heraus. Die Brust tut mir weh. Der Mann zählt die Flecken. Ich beobachte ihn, verletze aus Versehen das Lungenfell.
Überall Menschen
Ich steige in eine andere Bahn um. Es wimmelt von Menschen. Ich huste heftig, damit sie mir Platz machen. Es nützt nichts. Ich bitte einen kräftigen Mann, mir kurz die Lunge abzunehmen, damit ich die Hose hochziehen kann. Er weigert sich. Elender Hurensohn! Ich kann mich mit den Leuten hier nicht verständigen. Ich komme woanders her. Ich spreche kein Deutsch. Warum kann dieser fette Egoist nicht einen Schritt beiseite treten oder mir helfen?
Ich huste heftig, die U-Bahn rast.
Endlich bin ich da. Auf dem Bahnsteig ist es genauso stickig wie in der Bahn. Ich gebe mir einen Schuss Sauerstoff aus dem blauen Inhalator. Versuche mich zu orientieren, zwecklos. Die Menschen laufen in den Gängen durcheinander wie kopflose Tiere.
Gestern bin ich an der U-Bahn-Treppe in einen Haufen Hundescheiße getreten. Reste davon kleben immer noch in den schmalen Rillen meiner Schuhsohle. Ich schaue nach rechts und links die Straße entlang, suche nach Luft, sehe nichts.
Mich langweilt mein eintöniger Atemrhythmus, ich sprühe Sauerstoff in die Luft und auf meine Kleider.
Zerstörte Häuser
Ich hauche die zerstörten Häuser auf dem Bildschirm an, putze sie, ordne, was davon übrig ist, und schicke sie auf Facebook zurück zu denen, denen sie gehören.
Meine Freundin schickt mir Fotos von Tausenden zerstörter Häuser. Ich kann nicht zurückschreiben.
Ich kann nichts machen. Schicke mich selbst los auf Facebook. Sie öffnet nicht. Ich warte im Dunkeln und gehe irgendwann wieder nach Hause.
Ich google die Weltkarte, zerstöre die Welt, schließe die Seite wieder.
Meine Freundin schickt mir eine Blume. Ich hole sie schnell aus dem Posteingang. Doch ich kann keine Antwort schicken. Das Internet ist zu schwach, selbst im Exil.
Die Welt dort brennt. Währenddessen renne ich im Park nebenan zwischen den Bäumen umher, das Handy in die Luft gehoben, auf der Suche nach einem besseren Empfang.
„Die Blume, die du mir auf Facebook geschickt hast“, schreibe ich meiner Freundin, „hat mir die Hand blutig gerissen.“ Sie reagiert nicht.
Ich gehe auf den Markt, kaufe einen kleinen Baum und lasse ihn vor dem Fenster verdorren.
Übersetzt aus dem Arabischen von Leila Chammaa
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