Inklusives Segeln bei Kieler Woche: Auf Augenhöhe
Bei der Kieler Woche maßen sich behinderte und nicht behinderte Sportler in der gleichen Segelklasse. Aber bei den Paralympics ist das Segeln rausgeflogen.
KIEL taz | Hinter der Hafenmeisterei ist ein guter Platz. So hässlich dieses graue Waschbeton-Konstrukt, das anlässlich der Segel-Wettkämpfe bei den Olympischen Spielen 1972 hier im Kieler Stadtteil Schilksee gebaut wurde, auch ist, es schirmt ganz formidabel den Schall von der naheliegenden Trink- und Essmeile ab. Und so lässt sich hier in Stille gut der Wind studieren.
In der einen Sekunde ist er so sanft, dass nur ein Wispern ans Ohr dringt, in der nächsten zieht er mit einem eindringlichen Pfeifen über den Steg 2, an dem derzeit kein einziges Boot festgemacht ist, auf dem allerdings einige verwaiste Rollstühle stehen. Und im nächsten Moment ist er so stark, dass er die vielen Fahnen am Ufer kräftig knattern lässt.
Gut einen Kilometer draußen auf der Kieler Förde sieht die Lage noch ganz anders aus. Auf der Bahn „Golf“ kreuzen die Boote der Klassen 2.4mR und Hansa 303 im brausenden Wind. Es geht um Punkte für den Gewinn des EM-Titels im Para-Segeln, dem paralympischen Sport für Behinderte.
Nach dem großen Erfolg bei der Ausrichtung der WM im vergangenen Jahr bietet die 124. Kieler Woche den Rahmen für die kontinentalen Wettkämpfe, bei denen in der Klasse 2.4mR der Sydney-Olympiasieger Heiko Kröger aus dem schleswig-holsteinischen Ammersbek einer der Favoriten ist.
Verbesserte Rahmenbedingungen
Die Rahmenbedingungen und die Teilnahmemöglichkeiten für Segler mit Handicap haben sich in Kiel in den vergangenen Jahren stark verbessert. Vor vier Jahren wurde ein barrierefreier Zugang zum Steg 1 feierlich eröffnet. Er überbrückt mit seinen 44 Metern Länge einen Höhenunterschied von 1,80 Metern. Durch die nur sechsprozentige Steigung können ihn auch die Rollstuhlfahrer ohne fremde Hilfe befahren.
Bereits 2002 wurden die paralympischen Klassen in das Regatta-Programm der Kieler Woche aufgenommen. Seit 2008 wird die Klasse 2.4mR offen ausgeschrieben. Dies bedeutet, dass diese Kielboots-Klasse nicht nur AthletInnen mit körperlicher Beeinträchtigung vorbehalten ist.
Damit ist eine Inklusion in doppeltem Sinne erreicht worden: eine beim Regatta-Programm, die andere auf dem Wasser. Kröger, der letztlich Zweiter werden sollte, hat eine klare Meinung dazu, was der Segelsport leisten kann: „Für Menschen mit Behinderung ist es die inklusivste Sportart überhaupt.“ Er verweist auf die 2.4mR-Rangliste. Die ersten fünf Plätze nehmen Sportler mit einer Behinderung ein, der Sechstplatzierte ist der Erste ohne eine.
Ein großer Fehler
„Es ist ein Wettkampf auf absoluter Augenhöhe“, sagt der 52-Jährige, der für den Norddeutschen Regatta-Verein aus Hamburg startet. „Segeln leistet bei der Inklusion bei weitem mehr als Fußball oder Tennis und auch mehr als Rollstuhlbasketball“, ergänzt Kröger, der ohne linken Unterarm geboren wurde.
Vor dem Hintergrund ist es umso verstörender, dass Segeln aus dem Programm der Paralympics 2020 in Tokio genommen wurde. Die Ausrichtung der EM im Para-Segeln in Kiel darf daher als globales sportpolitisches Statement verstanden werden: Seht her, ihr Delegierten, es war ein großer Fehler, das Segeln aus dem Programm der Paralympics zu streichen.
Dirk Ramhorst, Organisationsleiter der Kieler-Woche-Regatten, formuliert es so: „Wir werden alles dafür tun, um den Weltverband dabei zu unterstützen, dass Segeln für die Spiele 2024 wieder den paralympischen Status bekommt.“ Die Inklusion passe in das Konzept Kiels: „Wir haben dafür ideale Voraussetzungen, und die Inklusion ist seit Jahren ein fester Bestandteil der Kieler Woche“, sagt Ramhorst.
Überraschende Entscheidung
Den weitreichenden Schritt, Segeln aus dem Programm der Paralympics zu streichen, hatte das Internationale Paralympische Komitee (IPC) im Februar 2015 vollzogen. Es begründete seine überraschende Entscheidung damit, dass der Segelsport einige grundsätzliche Kriterien nicht erfüllt habe.
Es fehle die internationale Verbreitung. Statt der geforderten 32 Nationen sind es nur 28. Zudem gibt es keinen Ticketverkauf, und die Fernsehübertragungen sind aufwendig. In einer ersten Reaktion sagte Kröger damals: „Da hat das IPC mit dem Hintern umgestoßen, was wir mit den Händen errichtet haben.“
Und auch jetzt, in der Erholung nach den ersten beiden Wettfahrten auf der Kieler Förde, bleibt der Vater von drei Kindern bei seiner Einschätzung: „Das war ein Schlag ins Kontor. Das war schon heftig.“
Als Kind im Optimist
Die Auswirkungen bekam Kröger, der einst als Kind im Optimist begann und seit mehr als drei Jahrzehnten in der Weltspitze segelt, deutlich zu spüren. Seine finanziellen Möglichkeiten schrumpften bald auf einen Bruchteil des Ausgangswertes zusammen.
„Es ist fast alles weggebrochen“, sagt er. Die Unterstützung durch den Deutschen Behindertensportverband (DBS) und die Sporthilfe ging zurück. Und das Sailing Team Germany (STG), in dem zwei Großsponsoren sechs Jahre lang den olympischen und paralympischen Segelsport mit zwei Millionen Euro per anno förderten, gibt es seit August 2016 nicht mehr. Dies allerdings war wohl mehr das Resultat eines jahrelangen Streits zwischen dem STG und dem Deutschen Segler-Verband (DSV).
Zu hohe Kosten
So oder so, den gelernten Diplomkaufmann Kröger trafen die Auswirkungen hart. Zur besten Zeit standen ihm 80.000 bis 90.000 Euro pro Saison zur Verfügung. Jetzt sind es noch 2.000 bis 3.000 Euro. „Das reicht für zwei Segel“, sagt Kröger, der sich seinen Optimismus bewahrt hat. „Zum Glück frisst das Boot kein Brot – nicht so wie bei einem Pferd“, sagt der zehnmalige Weltmeister.
Die Grundausrüstung für die Ausübung des Sports habe er ohnehin zusammen. Er verzichte aber auf viele Regatten: „Wenn da eine in Südfrankreich stattfindet, dann geht das nicht. Das kostet zu viel. Da ist der Sprit, die Autobahngebühr, die Übernachtung. Ich starte dort, wo es für mich kostengünstig erreichbar ist.“ Bei der Kieler Woche etwa.
Die Hoffnung auf eine sechste Paralympics-Teilnahme hat Kröger trotz der derzeit widrigen Umstände nicht aufgegeben. Kehrt Segeln ins Programm zurück, wird auch die Förderung wieder besser. Dann wären die Spiele 2024 in Paris die nächste Chance. Kröger überlegt kurz. Er wäre dann 58. „Warum denn nicht?“, sagt er und lächelt.
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