Inklusion in Berlin: Zurück in die Kleinklasse
Berlins Bildungsverwaltung macht es Schulen leichter, sonderpädagogische Kleinklassen einzurichten. Das Bündnis für schulische Inklusion protestiert.

Doch nachdem die Senatsverwaltung für Bildung die Verordnung neu gefasst hat, steht sie in der Kritik. Die Senatsverwaltung für Integration, die die Änderungen mittragen muss, sieht sich übergangen. Denn die Bildungsverwaltung habe die neue Verordnung veröffentlicht, bevor die Integrationsverwaltung dem zugestimmt habe. Das Bündnis für schulische Inklusion und zahlreiche Initiativen kritisieren den Vorgang nun in einem offenen Brief. Die Bildungsverwaltung habe die Neuregelung „regelwidrig in Kraft gesetzt“, schreiben sie und kritisieren: „Inhaltlich verstößt die Verordnung in ihrer aktuellen Form gegen wesentliche Prinzipien schulischer Inklusion.“
Ein breites Bündnis aus Wohlfahrts-, Sozial- und Behindertenverbänden ruft anlässlich des „Europäischen Protesttages zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung“ am Montag zu einer Demo auf. Unter dem Motto „Neustart Inklusion“ fordert das Bündnis Barrierefreiheit ohne Wenn und Aber: „Auch nach mehr als 15 Jahren nach Inkrafttreten der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen und vieler nationaler Gesetze und Richtlinien sind Menschen mit Behinderung von einer uneingeschränkten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben noch immer weit entfernt.“
Die Demo startet um 11 Uhr am Brandenburger Tor. Von dort geht es über die Straße Unter den Linden zur Abschlusskundgebung ab 13 Uhr vor dem Roten Rathaus. Während der Abschlusskundgebung stehen Gebärdensprachdolmetscher*innen zur Verfügung. (taz)
Die Bildungsverwaltung hatte am 3. März die Änderungen an der Sonderpädagogikverordnung erlassen. Die Integrationsverwaltung protestierte dagegen in zwei Schreiben, die der taz vorliegen. Ihre Verwaltung habe „schwerwiegende Vorbehalte“ gegen die Änderung der Sonderpädagogikverordnung geäußert, schreibt die Integrationssenatorin Cansel Kiziltepe (SPD) Ende März. Diese Vorbehalte habe die Bildungsverwaltung bisher nicht ausgeräumt. „An dieser Stelle hätte ein Fachgespräch folgen müssen“, schreibt Kiziltepe.
Konkret geht es vor allem darum, dass die Neufassung kleine Klassen ausschließlich für Kinder mit Förderbedarf einführt und ausweitet. So sollen Schulen nun „sonderpädagogische Kleinklassen“ für die Förderschwerpunkte Sprache, geistige Entwicklung und Autismus einrichten können.
Sonderpädagogen werden woanders fehlen
Das Bündnis für schulische Inklusion kritisiert das scharf: Es fehle ein inklusives Konzept. Im Bündnis stufen sie dies als „klare Rückschritte der schulischen Inklusion“ ein. Und sie befürchten, dass sich dies auf Schulen generell auswirkt: „Wir vermuten, dass damit auch Ressourcen verschoben werden“, sagt Janine Schott vom Bündnis. „Es wäre logisch, wenn die Sonderpädagogen dann auch an diese Schulen und in diesen Klassen eingesetzt werden würden.“ Damit würden sie dann aber voraussichtlich an anderer Stelle fehlen. „Und damit haben Eltern schon keine wirkliche Wahl mehr. Denn dann ist die Frage, ob sie das Kind in eine Kleinklasse mit Förderung geben, oder in eine Regelklasse ohne Förderung.“
Schott kritisiert, dass dies echte Inklusion wieder verschlechtert. „Außerdem gibt es kein Konzept, wie die Klassen dann in die Schulen eingebunden sind. Auch in der Nachmittagsbetreuung und ebenso im Hort gibt es dann keine Vermischung“, fürchtet sie. „Das bedeutet eine Segregation, wie wir sie noch nie hatten – denn in den 70er Jahren waren die Kinder noch nicht den ganzen Tag in der Schule. „Wann haben sie dann überhaupt noch eine Chance auf andere Kontakte, etwa zu Nachbarn?“, fragt sie.
Die Senatsverwaltung für Bildung wiederum sieht die „Mitzeichnungsvorbehalte“ aus ihrer Sicht ausgeräumt. „Die Änderungen der Sonderpädagogikverordnung stärken aus unserer Sicht die Inklusion an den Berliner Schulen und entwickeln sie qualitativ weiter“, antwortet ein Sprecher auf Nachfrage der taz. Die Bereitstellung von schulischer Inklusionsassistenz für Schüler*innen mit Bedarf an ergänzender Pflege und Hilfe werde erleichtert, wohnortnaher Beschulung Vorrang eingeräumt, die Beratung in der inklusiven Schule werde gestärkt.
Sonderpädagogische Kleinklassen „bestehen seit vielen Jahren, teilweise seit Jahrzehnten“ und würden keineswegs mit der neuen Verordnung neu eingeführt. Die Bildungsverwaltung sieht sie als ein die Inklusion förderndes „Unterstützungsangebot“ für Schüler*innen mit besonderen Bedürfnissen, die „ohne dieses Angebot nicht hinreichend gefördert werden können und daher in ihrer gesellschaftlichen Integration oder Inklusion gefährdet wären“.
Kritik vom Institut für Menschenrechte
Janine Schott, Bündnis Inklusion
Im Bündnis für Inklusion wiederum hätten sie genau dazu gern ihre Einschätzung abgegeben. „Bereits im Verfahren gab es starke Einwände“, etwa der allgemeinen Interessenvertretungen und des Deutschen Instituts für Menschenrechte, schreiben sie. „Es zeigt noch mal den Rückschritt“, sagt Janine Schott vom Bündnis. Aus ihrer Sicht widerspricht die neue Regelung den Empfehlungen und Forderungen aus den Verbänden. „Dass die Senatorin diese noch nicht mal anhört, dass sie etwas durchdrückt, ohne die Beteiligungsverfahren einzuhalten, dazu gehört schon eine Menge Ignoranz“, sagt Schott.
Zuvor hatte das Deutsche Institut für Menschenrechte kritisiert, dass in mehreren Bezirken Neubauten für reine Förderschulen geplant seien. Dies sei eine Entwicklung, die „den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention zuwiderläuft“, urteilte das Institut im März.
Das Bündnis für schulische Inklusion fordert die Senatsverwaltung auf, die Neuregelung der Verordnung „unverzüglich auszusetzen“. Mit einer Petition fordern sie „Schluss mit dem Inklusions-Chaos“ und im Schulgesetz festgelegte Rahmenbedingungen für gleichberechtigte, inklusive Bildung.
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