Inflation in der Türkei: Kohle, teure Tomaten und Kaufneid
Die Nachbarn unseres Autors holen ihre Tochter in die Türkei zurück und shoppende Bulgaren sorgen für Ärger. Der Inflation gerät außer Kontrolle.
A m Mittwochmorgen wurde ich vom jaulenden Geräusch einer Motorsäge geweckt. Ein Blick aus dem Fenster brachte Aufklärung. Unser Nachbar war dabei, eine Ladung Holz zu zerkleinern. Auf Zuruf klärte er mich auf. Er habe einen Holzofen gekauft. Nicht aus romantischen Gründen, sondern weil ihm das Gas für die Heizung zu teuer geworden sei.
Wie fast überall in Istanbul haben die Nachbarn in unserer Straße alle eine Gasheizung, was vor Jahren entscheidend dazu beitrug, dass die Luft in der Stadt besser wurde. Doch jetzt qualmen wieder verdächtig viele Schornsteine, und wem selbst Holz zu teuer ist, der verbrennt die besonders qualmende und stinkende Braunkohle.
Der Abschied von der Gasheizung ist ein Indiz, wie sehr die rasante Teuerung, die die Türkei derzeit heimsucht, das Leben der Menschen bestimmt. Kaum wird noch über etwas anderes geredet als über die täglich steigenden Preise.
Im Supermarkt beschwerte sich eine Kundin lautstark über die Tomatenpreise. Statt 12 Lira wie noch vor ein paar Tagen soll sie jetzt schon 20 Lira zahlen. Das seien aber auch ganz besonders gute Tomaten, versuchte der Verkäufer sie vergeblich zu beruhigen. Der Wertverlust der türkischen Lira ist völlig außer Kontrolle geraten.
Die Tochter anderer Nachbarn studiert in Italien. Die Eltern schicken ihr monatlich Geld, doch seit die Lira im Verhältnis zum Euro fast täglich an Wert verliert, wird es immer schwieriger, den Unterhalt zu bezahlen. „Sie wird bald zurückkommen müssen“, sagt der Vater völlig zerknirscht, „wir können das nicht mehr aufbringen“.
Richtig erbost sind die Leute über die Nachrichten von der türkisch-bulgarischen Grenze. Angesichts des dramatischen Zusammenbruchs der Lira ist es für arme Bulgaren jetzt enorm günstig, mit ihren wenigen Euros in der Türkei einzukaufen.
Reisebusse fluten seit Tagen die große Grenzstadt Edirne, wo die Bulgaren alles kaufen, was sie bekommen können; die Hotels sollen bis weit nach Neujahr ausgebucht sein – ausgerechnet die Bulgaren, auf die viele Türken herunterschauen und deren türkische Minderheit sich sonst immer hilfesuchend ans Mutterland gewandt hatte. In sozialen Medien ist die Empörung groß. Es ist, als würden in Berlin die Polen das KaDeWe leerkaufen, während sich die Berliner eine Shoppingtour in das Kaufhaus nicht mehr leisten könnten.
Notstand als Testballon
Glücklich ist, wer seine Ersparnisse rechtzeitig in US-Dollar getauscht hat. Sein Vermögen wächst. Über 70 Prozent aller Guthaben auf den Banken sind mittlerweile in Devisen, berichteten türkische Medien kürzlich.
Umso größer war die Aufregung, als İzzet Özgenç, ein Wirtschaftsprofessor aus dem „Reformteam“ von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, Anfang der Woche einen „ökonomischen Notstand“, also einen staatlich erklärten Ausnahmezustand, ins Gespräch brachte, der der Regierung weitreichende Vollmachten gegenüber der Opposition und, so wurde spekuliert, womöglich auch einen Zugriff auf private Devisenkonten der Bürger ermöglichen würde.
„Bei denen ist ja alles möglich“, empörte sich ein türkischer Kollege. Schreiben könnte er das nicht, denn dann stünde bald die Polizei vor der Tür, um ihn wegen Verbreitung von Nachrichten zur Panikmache zu verhaften.
Öffentliche Debatten über die wirtschaftliche Misere sind schon ohne Ausnahmezustand schwierig. Am Dienstag wurden drei junge Leute festgenommen, die für ihren Youtube-Kanal Leute auf der Straße zur wirtschaftlichen Situation befragen wollten.
Nach drei Tagen Aufregung über die „Idee“ mit dem „ökonomischen Notstand“ erklärte jetzt der stellvertretende AKP-Vorsitzende Numan Kurtulmuş, das sei alles Quatsch, die Regierung denke gar nicht daran, einen Notstand zu verhängen. Mit der Ökonomie sei alles in Ordnung, es gebe nur „kleinere temporäre“ Probleme, die bald wieder behoben sein würden.
Özgençs Vorstoß sei ein Testballon, kommentierte die Oppositionszeitung Sözcü. Wie reagieren die Leute? Die Bevölkerung werde vorbereitet, dass etwas Außergewöhnliches passiere. Wie zur Bestätigung senkte die Zentralbank auf Anweisung Erdoğans den Leitzins am Donnerstagnachmittag erneut von 15 auf 14 Prozent. Der Währungsverfall geht weiter.
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