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taz FUTURZWEI

Ines Geipel über ostdeutsche Identität Zurück ans Lagerfeuer der Doppeldiktatur

Wie lassen sich Opferkultur, Hass und Destruktion bei Teilen der Ostdeutschen erklären? Im Interview mit Ines Geipel suchen Harald Welzer und Peter Unfried nach Antworten – und nach Lösungen für eine bessere Zukunft.

War das die Wende? Juli, 1990 – DDR-Bürger beim Einladen von Westwaren aus Einkaufswagen in den Kofferraum ihres Wartburgs Foto: picture alliance/dpa/Wolfgang Weihs

taz FUTURZWEI | Suggestivfrage, Frau Geipel: Die Landtagswahlen im Osten richten sich auch gegen den Westen?

Ines Geipel: So suggestiv ist das gar nicht. Es sind tatsächlich für viele Wahlen gegen den Westen und damit die Demokratie. Dabei wird es keine Allianz geben wie in Frankreich. Nach dem zweiten Wahlgang hieß es vonseiten der deutschen Politik: Wenn Frankreich das kann, kann der Osten das auch. Aber die Stimmung da ist anders. Es dominieren eher die Ausstiegsszenarien als frappierende Bündnisse.

Was heißt das?

Man rechnet eigentlich mit dem Desaster und das nicht nur in der Politik. Ich war im Frühsommer in Plauen und Pirna. Da denken nicht wenige der engagierten Leute über die Koffer nach, die sie packen werden.

„ Im Osten haben sich augenscheinlich Nationalsozialismus, DDR und die Zeit nach 1989 zum Zeitkontinuum verschweißt. Und in dieser ewigen Ewigkeit soll es keine Hoffnung geben. Es geht nicht um Wut, es geht um Hass, um echte Destruktion“

Metaphorisch gesprochen?

Leider nicht. Das sind Menschen, die ukrainische Flüchtlinge aufgenommen haben, die Syrer aufgenommen haben, die als Schwule und Lesben leben wollen. Die unendlich viele Zivilprojekte gestartet haben, um ein normales, buntes Leben zu leben. Für sie wird es eng. Sowohl AfD als auch BSW machen auf Heimat, Familie, Nationales. Ein Sammlungsappell ostdeutsche Lagerfeuer und gegen das andere, das Außen.

Sie halten nichts von der Annahme, bei den staats- und politikskeptischen AfD-Wählern handele es sich um die klassischen Abgehängten und Benachteiligten?

Der Osten ist mittlerweile der Wirtschaftsmotor des Landes. Die ostdeutschen Frauen verdienen mehr als die westdeutschen. Die Sozialdaten sind angeglichen, die Städte Schmuckstücke, die Infrastruktur ist spitze. LNG-Terminals, Tesla, Intel, synthetisches Flugbenzin – alles da. In Dresden und Leipzig boomen die Millionäre. Und nun gibt es ein Verhältnis, das man sich anschauen sollte: Je besser die Zahlen, umso stärker das Antidemokratische.

Ines Geipel

Publizistin, Schriftstellerin, Professorin für Deutsche Verskunst an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch«. Eines ihrer Hauptthemen sind die zwei unaufgearbeiteten Diktaturen in Ostdeutschland. Ein anderes ist die unveröffentlichte Literatur des Ostens und ihre Opfer. Geboren in Dresden, lebt in Berlin.

Zuletzt von ihr erschienen: „Fabelland. Der Osten, der Westen, der Zorn und das Glück. (S. Fischer 2024, 320 Seiten, 26 Euro)

Zum taz FUTURZWEI-Gesprächtraf sich Geipel mit den Interviewern auf der Dachterrasse des taz-Hauses in Berlin-Kreuzberg.

Was ist Ihre Erklärung dafür?

Da gibt es nichts Monokausales. Im Osten haben sich augenscheinlich Nationalsozialismus, DDR und die Zeit nach 1989 zum Zeitkontinuum verschweißt. Und in dieser ewigen Ewigkeit soll es keine Hoffnung geben. Es geht nicht um Wut, es geht um Hass, um echte Destruktion.

Die Attraktivität des Destruktiven ist ein Erfolgsmodell der AfD und der anderen Populisten. Ansonsten versteht man ja nicht, warum Gutsituierte die AfD so geil finden.

Die Kohle ist es zumindest nicht. Es ist ein hartes Nein, die Sehnsucht nach Revanche, nach Eskalation ins Extreme. Es ist die lange Erfahrung von Vernachlässigung, von gelöschtem Leben, das Gefühl, in ein historisches Vakuum hineingezogen worden zu sein. Es ist der Neid auf die Kultur der Freiheit. Das sind alles keine einfachen Dinge. Es gibt auch einen Überlebensgrund, sich nicht zu erinnern.

Alles so schön renoviert hier: Altes Rathaus in Plauen. Bei der Landtagswahl 2024 verbuchten AfD und BSW in Plauen 45% der Zweitstimmen Foto: picture alliance/dpa/Hendrik Schmidt

Peter Sloterdijk hat in einem älteren Interview über die Querdenker in der Pandemie gesagt: Das sind Leute, die haben keinen Krieg erlebt, kein schweres Trauma erlitten, das sind Besiegte anderen Typs. Das klingt bei Ihnen auch an.

Es sind Besiegte, Beglückte, Selbstbefreite, je nachdem. Das ist schon deshalb so verwunderlich, weil es dieses '89 gegeben hat, die Öffnung, die glückliche Revolution. Wir wollten zur Welt gehören, frei sein. Und nun gibt es dieses 35 Jahre lang eingeredete Underdog-Syndrom – das Konstrukt vom Ostdeutschen als Abgehängtem, Kolonisiertem, Bürger zweiter Klasse. Das hört ja gar nicht mehr auf.

Was ist die Ursache dieses Traumas?

56 Jahre Diktatur-Erfahrung. Wir haben es uns Ost wie West nach 1989 leichter vorgestellt, das anzuschauen. Dazu die öffentliche Umerzählung, die die Diktatur im Osten ausblendet.

Hitler plus DDR.

Ja, das verzahnte restriktive Kontinuum, diese endlose Durchsetzung von Staat. Der Osten ist auf dramatische Weise regressiv. Er schleppt zu viel mit, seine ganze Erfahrungswucht. Und unter Druck kehrt er in das zurück, was er kennt. Er erträgt es nicht, vaterlos zu sein. Der Osten hat seine Angst noch immer sicher. Das macht ihn anfällig und zum Experimentierfeld. Wenn du dich im Osten auf die Marktplätze setzt, heißt es stolz: Wir haben es jetzt hübsch hier. Und der nächste Satz lautet: Nun müssen nur noch die Ausländer raus.

Die ja gar nicht da sind.

Naja, das hat sich schon verändert. Aber man muss es sich vorstellen. Diese Brutalität.

Autoritäre Systeme arbeiten mit einem exklusiven »Wir«-Begriff. Sie brauchen auch eine »Sie«-Kategorie, gegen die man stehen kann. Ist das der Transmitter von den Diktaturen nach heute?

Der Transmitter ist dieser ewige Umbau des Kollektivkörpers. Den gibt es im Nationalsozialismus und in der DDR, und der ist im Kern stabil geblieben. Nach 1989 haben die Linken sich den geholt. Nach 2015 kommt die AfD und kapert ihn sich, und jetzt hast du so einen kollektiven Nein-Clan mit einer Lust zum Extrem.

Sie haben das beschrieben: Der DDRler hatte als Sozialist im Kollektiv der Sieger der Geschichte zu sein, und damit ist er seit 1989 der Verlierer der Geschichte. Richtig?

Es ist zuallererst ein Identitätsproblem. Es gibt viel Suche im Osten und zugleich die alten Propagandaidentitäten. Die sind abrufbar. Ansprüche stellen, um das Eigene wissen, dein Ich verteidigen? Wo sollte das herkommen nach 56 Jahren Diktatur? Es geht doch noch immer viel um seelische Gewaltwunden.

„Es ist zuallererst ein Identitätsproblem. Es gibt viel Suche im Osten und zugleich die alten Propagandaidentitäten. Die sind abrufbar.“ – Trabi-Treffen in Anklam, 2024 Foto: picture alliance/dpa/Stefan Sauer

Die »Ostdeutschen« sind ja nun auch eine sehr heterogene Gesellschaft. Aber wie kann das passieren, dass Leute, die eben nicht am runden Tisch von einer Alternative zu beidem träumten, sondern explizit den Westen wollten, jetzt den Westen hassen?

Zunächst mal: Es geht hier um ein Verhältnis von eins zu sieben. 71,8 Millionen Westdeutsche und 12,6 Millionen Ostdeutsche. Ist schon komisch, wenn es immer heißt: Die Ostdeutschen und die Westdeutschen. Darüber hinaus hat es in 35 Jahren im Land ja einiges an Bewegung gegeben. Da Sie aber von den runden Tischen sprechen: Das waren eben oft Leute, die einen besseren Sozialismus wollten. Dieser unerlöste Rest hat sie irgendwann zur AfD oder heute eben zum BSW getrieben.

Wirklich?

Es gibt nicht wenige Bürgerrechtler, die strange bei der AfD unterwegs sind. Mir fällt da ein Fall ein: In den 60ern geboren, Fluchtgeschichte, verhaftet, DDR-Knast, zweite Flucht, wieder verhaftet, vom Westen freigekauft, dann Jura in München studiert, nach 1989 wollte er Landesbeauftragter werden und die Aufarbeitung der SED-Diktatur und ging damit total baden. Heute ist er Pressesprecher der AfD bei Leipzig und kommt immer mit dickem BMW zu Veranstaltungen. Diese inneren Mauern spielen in den Ost-Biografien eine eminente Rolle.

Soziologisch betrachtet steht also das Individualisierungskonzept der westlichen Konsumgesellschaft gegen den Kollektivkörper, der über zwei nahtlos ineinander übergehende Diktaturen bestehen bleibt. Die Individualisierung hat im soziologischen Sinne nie stattgefunden und daraus entsteht der Konflikt. Richtig?

Das ist der zentrale Konflikt. Und dann gibt es natürlich noch Hauptstränge, etwa eine nicht therapeutisierte Gesellschaft. Freud und die Tiefenpsychologie waren im Osten ab 1948 tabu. Dazu diese Verrats- und Bespitzelgesellschaft über zwei Diktaturen hinweg. Zu DDR-Zeiten gab es die Angst, zur Therapie zu gehen, weil die Stasi ja überall dabei war. Das große Thema im Osten ist Vertrauen.

Inwiefern?

Die Sache mit dem Selbst, das Vertrauen in die Welt. Das war im Grunde detoniert. »Vom Ich zum Wir« lautete der Verheißungsimperativ im Osten. Und dann musste sich all das nach 1989 neu finden oder überhaupt erst entstehen. Diese inneren Kollisionen haben wir nicht genug im Blick gehabt. Das Trauma-Massiv in den Leuten. Hoch wie die Alpen.

Weder 1945 noch 1989 wären dann eine Zäsur?

Die Aufrufbaren sehen ihr Leben als einen Prozess, indem der Staat sie fertigmachen will. Und mittlerweile ist das ja auch fein umerzählt: Auch die Westdeutschen wollen uns fertigmachen. Der Volkskörper wurde nach 1945 zum DDR-Opferkollektiv umgebaut, und zwar mit aller Härte. Wenn wir DDR sagen, gucken wir in die bunten 70er-Jahre-Bilder. Aber auf die Gewaltgeschichte des Nationalsozialismus folgten bis 1955 über zehn Jahre blanker Terror. Die Leute waren schier fassungslos vor Angst. Das hat die Ost-Gesellschaft geprägt, auch transgenerationell. Und dieser Angstmotor läuft immer noch. Er ist heute ein starker Polittrigger.

Mauer und Stacheldraht von Diktaturen – 56 Jahre die prägende Kontinuität in Ostdeutschland Foto: picture alliance/dpa/Jens Büttner

Ihre These ist, dass Ostdeutschland 1968, also die Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit, zweimal verpasst hat – erst 1968 und dann 1989.

Nein, meine These ist: Es gab im Osten ein '68, aber es war Prag '68, und das war die große Desillusionierung. Leute, die an das System geglaubt haben, wie Christa Wolf etwa, verabschiedeten sich nach dem Einmarsch der Sowjets in die Tschechoslowakei im Inneren von der Sozialismus-Idee. 1968 ist der Moment, in dem sich der Westen verändert und eine offenere Gesellschaft wird. Im Osten wird es enger, rigider, dort wird der Geheimdienst neu aufgestellt. Günter Grass hat bei der späteren DDR von einer »kommoden Diktatur« gesprochen. Es war genau umgekehrt. Die 80er-Jahre in der DDR waren übelste Zersetzungsjahre. Eine moderne Diktatur, die nach innen alles abschnürt und nach außen mit den bunten Bildern rumwedelt. Ich habe viel Opferpolitik mitgemacht und kann von daher sagen: Die Babyboomer-Generation hat es richtig abgekriegt. Die siegen nach außen und gehen im Inneren kaputt. Gerade die Linke im Westen hat sich nie dafür interessiert, wie diese Diktatur-Dimension in den Biografien und in den Körpern aussieht.

Eine weitere Kernthese von Ihnen lautet, dass das ein gesteuerter erinnerungspolitischer Revisionismus ist, also alte Seilschaften, die den Ostler als Superopfer des Westens inszenieren. Richtig?

Ich sage es ein bisschen anders. Ich bin nicht auf der Verschwörungstheorie-Ebene, sondern halte viel davon, das Gesellschaftsloch noch mal anzuschauen, das 56 Jahre Diktatur hinterlassen haben. Dieses Wasteland. Aber ja, es gibt die Tätermilieus, die die Zeit nach 1989 gut für sich nutzen konnten, genauso wie nach 1945 im Westen. Und was wir öffentlich auch kaum erzählen: Dass es hier vor allem um einen innerostdeutschen Streit geht. Wem gehört die Geschichte, wie ist sie gelaufen, wie ist sie erzählbar? Da ist der Westen doch völlig außen vor.

Die neue Opferinszenierung eines Teils der Ostdeutschen dient dazu, die wahren Opfer vergessen zu machen?

Es gibt laut UOKG, der Union der Opferverbände, mehr als drei Millionen anerkannte DDR-Unrechtsopfer. Wo sind die? Wieso müssen sie derart verleugnet werden?

Ist es ein nahtloser Übergang von den Opfern des Faschismus zu den Opfern des Westens?

Es ist ein elendes Opfer-Kuddelmuddel. Wenn man sich einen reinen DDR-Opferstaat organisiert, ist doch klar, dass die Ostdeutschen heute sagen: Was Opfer? Das sind wir doch. Nach 1989 wurde viel vom Soli, den Renten, dem nicht vorhandenen Erbe geredet, aber kaum vom immateriellen Erbe. In den Debatten spielt die Systemfrage keine Rolle. Heute darfst du von Unrechtsstaat und Diktatur nicht mehr sprechen, sonst wirst du in den Veranstaltungen angeschrien.

Sie kennen das?

Nicht nur ich.

Lassen Sie uns nochmal klären, wie es sich ausgewirkt hat, dass die 68er die Tätergeschichte im Westen in die Mitte der Gesellschaft gebracht haben, und sie im Osten zweimal beschwiegen wurde.

Im Westen gab es mit 1968 die Gegenidentität der Jungen, also die Identifizierung mit den jüdischen Opfern. Im Osten ist es durch die lange Einschlussgeschichte und den strammen transgenererationalen Faden zur Überidentifikation mit den Großeltern und Eltern gekommen. Die Verweigerung des Umgangs mit Geschichte lässt politisch und biografisch zwar Kontinuitäten entstehen und den manifesten Opfermythos im Osten aufrechterhalten, verhindert allerdings auch den Bruch mit der Doppeldiktatur. Und nun sieht man immer deutlicher die Generationsbänder: 15,6 Prozent in der Alterskohorte 15 bis 30 Jahre wollen im Osten ein autoritäres Regime. Im Westen sind es 2,2 Prozent. Das ist alarmierend. In dem neuen Buch sage ich, dass es eine Invasion von innen gibt. Es ist nicht der Westen, der den Osten übertölpelt. Der Osten schafft es nicht, sich aus seinem Diktaturbann zu entlassen.

„Die DDR war erklärtermaßen nur eine Fußnote der Geschichte. Der Westen hat nicht hingeschaut und sich den Schmerz des Ostens fremdhalten können“

Wir im Westen sind ja nun die Weltbesten in Erinnerungskultur und in der Holocaust-Verantwortung. Warum passen die realen Diktaturopfer der DDR nicht in unser Denken?

Vielleicht, weil zwei Diktaturen eine zu viel sind. Der Westen signalisierte mit 1989: Wir haben unsere Arbeit gemacht, die Erzählung ist gefunden, wir wissen, wie‘s geht. 1989 wäre der Moment gewesen, eine gesamtdeutsche Erinnerungslandschaft zu bauen, eine Doppelhelix des deutschen Gedächtnisses. Dafür war der Westen mit seiner wackligen Erinnerungsarchitektur nicht stabil genug.

Das Ende der DDR ist für den Westen Pipifax?

Die DDR war erklärtermaßen nur eine Fußnote der Geschichte. Der Westen hat nicht hingeschaut und sich den Schmerz des Ostens fremdhalten können.

Bestimmte Teile dessen, was Sie beschreiben, gelten aber auch für den Westen. Diese berühmten 20 Prozent autoritär Strukturierte, die haben jetzt auch im Westen eine Party.

Je mehr Zeit vergeht, desto weniger Täter gibt es in der Gesellschaft. Von der Projektion her, nicht von der Realität. Diese Derealisierung von Vergangenheit ist eine Synapse zwischen Ost und West. Und bei beiden gibt es eine Deckerzählung: Der Westen ist trainiert darauf, in seine Schuldschuhe zu schlüpfen. Der Osten wehrt ab. In dieser Spiegelszene lässt sich politische Verantwortung außenvorhalten.

In einer größeren historischen Perspektive würde man sagen, das wächst sich alles aus.

So ist 35 Jahre lang argumentiert worden. Die Bilanz heute: Die Kohle allein hat es nicht gebracht. Es braucht mehr, anderes. Die Landschaften im Osten blühen, aber die Antidemokraten sind dabei, das deutsche Glücksprojekt zu beenden.

Nörgeln tun Wessis ja auch.

Aber man hat im Osten alles doppelt. Er hat zwei Vergemeinschaftungsversuche auszuatmen und muss durch ein doppeltes Schweigen. Ich komme gerade von einer Rundfunksendung mit einem Ost-Prominenten. Und wenn man dann sagt, der Osten hat im roten Antifaschismus-Mythos seinen Holocaust nicht aufgearbeitet, dann explodiert der Laden. Es braucht nur das Wort Auschwitz, dann drehen alle durch. Eiserne Abwehr der Negatividentität, kein Kontinuitätenbruch. Dann heißt es: Aber wir haben im Osten schon 1958 einen Film über Auschwitz gehabt. Nur, was erzählt das? Wir haben im Osten den Holocaust als Gesellschaft nicht bearbeitet, wir haben ihn in den Eisschrank gelegt.

Was passiert denn jetzt bei und nach den Wahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen, Frau Geipel?

Der Trend ist eindeutig. Bei der Europawahl hat die AfD fünf Prozent gegenüber der letzten zugelegt. Das BSW liegt in Umfragen mitunter bei 20 Prozent. Legen wir rechten und linken Populismus zusammen, sind wir bei mehr als 50 Prozent, die zumindest keine demokratische Mitte wählen.

Wenn die Wahlverwandtschaft zwischen BSW und AfD in einem völkischen Wir-Konzept liegt, dann wäre das nach Ihrer Theorie genau die Traditionslinie.

Das meine ich damit, dass drei politische Verfasstheiten ein Kontinuum geworden sind. Das ist in meinen Augen nur mit dem Langzeitcharakter des Restriktiven möglich, in einer – ich sage es jetzt nochmal – Doppeldiktatur.

Warum darf man eigentlich in gewissen Kreisen nicht doppelte Diktatur sagen?

Es ist die Angst vor der Gleichsetzung. Es geht aber nicht um die Gleichsetzung, es geht um die Verzahnung, Verschweißung, das innere Verbackensein. Das Völkisch-Nationale ist ein geistiges Kontinuum.

„Wenn wir DDR sagen, gucken wir in die bunten 70er-Jahre-Bilder. Aber auf die Gewaltgeschichte des Nationalsozialismus folgten bis 1955 über zehn Jahre blanker Terror. Die Leute waren schier fassungslos vor Angst. Das hat die Ost-Gesellschaft geprägt, auch transgenerationell. Und dieser Angstmotor läuft immer noch.“ – Spielzeug-Wartburg in einem Museum Foto: picture alliance/dpa/Hendrik Schmidt

Was wird aus der Beschwörung der sogenannten »Brandmauer«, also das Raushalten von AfD-Politikern aus Regierungsverantwortung?

Es gibt keine Brandmauern. Das sind Scheindebatten, die die AfD nur stärken. Wenn sie in Städte wie Plauen oder Pirna gehen, dann lachen die darüber. Pirna hat einen AfD-Bürgermeister. Der hat die Stadt hübsch gemacht, sagt man auf dem Marktplatz.

Parteilos und nominiert von der AfD.

Man kann politisch praktisch im Kommunalen nichts mehr machen ohne AfD. Die Frage ist, was man damit macht.

Was?

Mit 2015 ist im Osten ja einiges in Sachen Bürgersinn passiert. Man kann jetzt eigentlich nur sagen: Okay, das braucht jetzt einen langen Atem, wir müssen beharrlich bleiben und den demokratischen Osten – so gut es geht – stützen. Steffen Mau kommt jetzt mit den Bürgerräten.

Die Grundthese des Soziologen Mau ist: Es gibt zwei unterschiedliche kulturelle Identitäten, West und Ost, und das muss man jetzt einfach mal akzeptieren.

Das Konzept nimmt sicher die scharfen Töne raus, bringt uns politisch aber keinen Schritt weiter. Da können wir auch anfangen, von Ostelbien zu reden. Diktatur in ihrer Dimension gibt es bei Mau nicht. Und ob Bürgerräte nun das Zünglein an der Waage sind, da habe ich meine Zweifel. Warum nicht das an Demokratie stärken, was doch da ist?

Naja, man versteht durch Mau, dass die Vorstellung irreal ist, alle müssten gefälligst Westler werden.

Mussten wir das? Ost und West sind verschieden, okay. Und nun? Ist das hilfreich bei dieser politischen Entwicklung?

Was passiert, wenn das destruktive Moment regierungsamtlich wird? Und die Hypothese wäre: Da steckt eine Dynamik drin, die das Destruktive immer anschlussfähiger macht.

Eben. Also demokratische Strukturen absichern. Stichwort Bundesverfassungsgericht.

Und sonst?

Schule, Kultur. Wir versuchen die ganze Zeit zu verhindern, dass der Elefant seinen Auftritt hat. Dabei hat er ihn längst. Eben erst in Sachsen. Ein Theatermann macht ein Sophie-Scholl-Stück und hat hinten Hitler, Xi Jinping und Putin an der Wand. Abiturienten denunzieren das Theaterprojekt bei der AfD-Kulturtante wegen Linksextremismus. Wenn die AfD verantwortlich ist für Kultur und für Bildung und in den Behörden sitzt, wird das zum Alltag.

Wir bei taz FUTURZWEI würden gern Lösungen finden.

Ich auch. Aber erstens bis zehntens und das Problem ist gelöst, wird nicht funktionieren. Wie reden, wenn der andere nicht reden will? Vielleicht die Not lesen lernen und das ins Politische übersetzen? ■

Das Gespräch führten Harald Welzer und Peter Unfried. Harald Welzer ist Herausgeber unseres Magazins taz FUTURZWEI, Peter Unfried ist Chefredakteur von taz FUTURZWEI.

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