Indigene Schutzgebiete in Brasilien: 300 Jahre Vorsprung
Ein Bundesstaat wollte Entschädigung für indigene Schutzgebiete. Doch das Gericht urteilte zu Gunsten der Bewohner – die sind nämlich länger da.
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Einstimmig wiesen die acht anwesenden Richter die Forderung des Bundesstaates Mato Grosso zurück, vom Bund eine Entschädigung für angebliche Landenteignungen bei der Einrichtung der Gebiete zu bekommen. Statt der erhoffen Finanzspritze muss die Regierung von Mato Grosso nun für die Gerichtskosten aufkommen.
In dem Verfahren ging es um den Nationalpark Xingu und die Reservate Nambikwára und Parecis im Westen des Landes. Die drei Schutzgebiete wurden in den 60er Jahren jeweils per Dekret eingerichtet. Der 27.000 Quadratkilometer große Xingu-Park ist das erste Landstück Brasiliens, das die Regierung Indigenen übereignete. Derzeit leben dort rund 5.000 Indígenas, die 14 verschiedenen Ethnien angehören. Die Reservate Nambikwára und Parecis sind ebenso spärlich besiedelt.
Die Richter betonten, die fraglichen Gebiete würden schon seit hunderten Jahren von Ureinwohnern bewohnt. Sie zitierten mehrere wissenschaftliche Gutachten, laut denen die gesamte Region zwischen dem Amazonasbecken im Norden und dem Cerrado im Süden und Westen seit mindestens 300 Jahren, teilweise aber auch seit 800 Jahren von Indígenas besiedelt wird. Deswegen gehöre das Land nicht dem Bundesstaat, sondern den Indigenen.
Nachträgliche Legalisierung
Wichtiger als die eigentliche Entschädigungsfrage ist der Tenor der Urteilsbegründung der Richter. Sie hätten sich nämlich auch die These des „engen Zeitrahmens“ zu eigen machen können. Sie ist in Brasilien als „marco temporal“ bekannt; Großgrundbesitzer ziehen sie heran, um die Einrichtung von indigenen Schutzgebieten zu torpedieren.
Nach dieser Argumentation ist für die Anerkennung der Landrechte ausschlaggebend, ob das betreffende Gebiet genau am 5. Oktober 1988, dem Tag des Inkrafttretens der heutigen Verfassung, von den Indigenen bewohnt wurde. Für die Anwälte der Indigenen bedeutet diese Sichtweise eine nachträgliche Legalisierung von früheren gewalttätigen Vertreibungen.
Dennoch wurde dieses umstrittene Kriterium bereits mehreren früheren Gerichtsentscheiden zugrunde gelegt – zum Beispiel, als 2009 über das umkämpfte Schutzgebiet Raposa Serra do Sol im Bundesstaat Roraima entschieden wurde. Brasiliens Präsident Michel Temer plädierte im Juli gar dafür, diese Urteile, die sich an den Besitzverhältnissen im Jahr 1988 orientieren, zukünftig zum Maßstab zu machen.
Indígenas und Unterstützer aus sozialen Bewegungen, die seit dem Vortag vor dem Gerichtsgebäude eine Mahnwache abhielten, feierten das Grundsatzurteil als Etappensieg. Eine Enttäuschung war der Tag dagegen für die Quilombolas, die ebenfalls in Brasília und anderen Landesteilen demonstriert hatten. Denn ein zweites Verfahren wurde vertagt, in dem die konservative Partei DEM gegen ein Gesetz zur Anerkennung von Landrechten der Nachfahren entflohener Sklaven klagt.
Ausweitung von Sojaplantagen und Viehweiden
Seit Jahren nehmen in Brasilien die Auseinandersetzungen zwischen Indigenen und Großgrundbesitzern sowie Bergbauunternehmen zu. Die Ausweitung von Sojaplantagen und Viehweiden heizt zudem die Abholzung im Amazonasgebiet erneut an. Nach Angaben der katholischen Landpastoral CPT kam es allein im Jahr 2016 zu über 1.000 Landkonflikten mit 61 gewaltsamen Todesfällen.
Präsident Temer wird vorgeworfen, mit Dekreten und Finanzgeschenken zugunsten der einflussreichen parteiübergreifenden Agrarierfraktion die Landrechte der Ureinwohner zu verletzen. Nach Meinung des indigenen Missionsrats Cimi hat sich Temer mit solchen Gefälligkeiten auch politische Rückendeckung im Kongress erkauft. Im Juli stimmten die Abgeordneten der Agrarier geschlossen gegen die Aufhebung von Temers Immunität, wodurch ein Korruptionsprozess gegen den unbeliebten Präsidenten vor dem obersten Gericht platzte.
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