Inaugural-Poem von Amanda Gorman: Den Hügel erklimmen
Die intersektionelle Aktivistin Amanda Gorman soll zur Amtseinführung von Joe Biden das Inaugural-Poem sprechen. Mit Pathos, ohne ihm zu erliegen.
Nicht nur die Nation, sondern die ganze Welt: Das ist mal ein Publikum, das einschüchtern könnte. Zumal die Stimmung aufgeheizt und die Bühne mit Superstars zu teilen ist. Aber Amanda Gorman wird das meistern. Die 22-jährige Lyrikerin wird am 20. Januar bei der Amtseinführung von US-Präsident Joe Biden ein Gedicht rezitieren, das Inaugural-Poem.
Es wird dem Pathos angemessen sein, ohne ihm zu erliegen. Es wird die Größe und den Schrecken der USA beschwören. Es wird ein Gedicht sein, das die Welt bewegt. Denn die Harvard-Absolventin ist die richtige für den Job.
Job ist dabei ein unangebrachtes Wort. So wie Amtseinführung eine viel zu geschäftsmäßige Übersetzung von Inauguration ist. Sie spricht der Zeremonie das Sakrale ab, das ihr Kern ist: Erst beten Geistliche den Segen vom Himmel herab – das erledigen Jesuitenpater Leo O’Donovan und Methodistenpastor Silvester Beaman.
Musik hebt die Herzen. Und die Lyrik – inauguration kommt von „Auguren“, den verbeamteten Wahrsagern von einst – übernimmt die prophetische Funktion. Sie greift vor auf Inhalte der Ära, die anbricht, formuliert Erwartungen, auch Ängste – ohne in die Prosa konkreter Forderungen abzurutschen. „Give birth again/ To the dream“, hatte Maya Angelou 1993 in ihrem für Bill Clinton die Poetik jedes Inaugural Poems umrissen: den Traum erneuern, der Amerika ist.
Akzent auf Versöhnung
Diesmal soll der Akzent auf Versöhnung liegen. Aber durch die Berufung der intersektionellen Aktivistin Amanda Gorman als Inaugural-Poet macht Bidens Team klar, dass Versöhnung nicht Harmoniesülze bedeutet. Wir sind nicht plötzlich alle Freunde. Mit besorgten Faktenleugnern unter Waffen lässt sich nicht reden, und mit „men so white they gleam blue“ kein Frieden schließen: Das unheimliche Bild der Männer, die so weiß sind, dass sie blau glimmen, hatte Gorman 2017 geprägt.
Sie war damals frisch zur ersten Youth National Poet Laureate berufen worden und angesichts des tödlichen Fascho-Aufmarschs von Charlottesville hatte sie mit „In This Place (An American Lyric)“ ein mental-politisches Panorama der USA entworfen. Deren Spaltung sei zu überwinden, wenn die „Liebe der Vielen / den Hass der Wenigen verschluckt“, weiß das Gedicht. Weshalb gelte: „The tyrants fear the poem.“
Tyrannen fürchten das Gedicht: Ein Vers von historischer Wahrheit. Amanda Gorman hat ihn zu ihrem Motto erhoben und einen Sticker mit ihm entworfen: Sie, voranschreitend, ein Buch in der Hand, wie eine Waffe. Ihre Lyrik ist Aktivismus, und ihr Aktivismus Lyrik, und sei es als Demo-Aufruf, wie das spoken-words-Gedicht „Rise Up As One“. Das hat 2018 für den Women's March in ihrer Heimatstadt Los Angeles Los Angeles mobilisiert, mit Rhythmen und Reimen, die verrieten, dass die Spitzenakademikerin die Sprache ihrer Hood noch spricht.
Defizite ausgleichen
Das Team Biden hätte eine bequemere Wahl treffen können, aber keine schlauere. Denn so eine Inaugural Poet soll ja auch ausgleichen, was als Defizit des neuen Amtsinhabers gilt. Großväterlicher weißer neuer Präsident, junge schwarze Dichterin: Der Kontrast ist gut.
Er wirkt wie ein Gegenstück zur Premiere vor 60 Jahren. Damals ließ sich ein burschikoser Präsident von einem Dichtergreis in Weisheit hüllen. John F. Kennedy galt, wie Kaiser Augustus, als kundiger Lyrik-Liebhaber. Darauf zu drängen, dass National Poet Laureate Robert Frost zu seiner Vereidigung am 20. Januar 1961 ein Gedicht vortragen solle, war auch eine imperiale Geste. Alle Präsidenten der Demokraten haben sie wiederholt. Bis auf Jimmy Carter.
Möglicherweise hatte der die Premiere noch zu genau in Erinnerung. Denn die war nicht glücklich. Frost, der einzige namhafte Dichter, der Joseph McCarthy die Stirn geboten hatte, konnte, von der Wintersonne geblendet, das Typoskript des ironischen Huldigungsgedichts, das er gedrechselt hatte, nicht entziffern. Stattdessen trug der 86-Jährige auswendig das schlimme „The Gift Outright“ vor also „Das bedingungslose Geschenk“.
„The land was ours“ fängt's an, „before we were the land's“. Also: Das Land war unser, bevor wir dieses Landes waren, / es war seit über hundert Jahren unser Land, / bevor wir dann sein Volk gewesen sind. Unser war / das schöne Massachusetts…. Und so weiter, über Territorien der Mohegan, Wampanoag und Powhathan gen Westen. Ein glorreicher Ritt, bei dem die unnützen Native Americans wohl nur gestört hätten.
„Hat er da echt Völkermord abgefeiert?“, hat sich der Dichter Jason Schneiderman beim Wiederlesen entgeistert gefragt, als er 2011 dem Rätsel des Genres Inaugural Poem nachging. Die Antwort ist nicht nein.
Das Glücksversprechen ernst nehmen
Chauvinismus ist passé, in der US-Lyrik. Er lag auch schon Richard Blanco und Elizabeth Alexander fern, den Inaugural Poets von Barack Obama. Mit ihnen hat sich Gorman jetzt beraten. Sicher ist, dass da eine junge Frau auftreten wird, die sich traut, das individuelle Glücksversprechen der Unabhängigkeitserklärung ernst zu nehmen und sich nicht abspeisen lässt: „The One for Whom Food Is Not Enough“ heißt ihr bislang einziger Gedichtband, 2015 erschienen, längst vergriffen.
Ihre online veröffentlichte Dichtung zielt oft direkt auf die politischen Institutionen und ihre Fundamente. Etwa auf Thomas Jeffersons „Notes On The State of Virginia“ (1785).
Die sind ein Grundlagentext der USA. Sie formulieren, vor der Verfassung, deren Freiheitsrechte, das Prinzip des säkularen Staats und das von Checks and Balances. Ihr 14. Kapitel aber verwandelt anti-Schwarze Ressentiments in eine pseudorationale Doktrin.
Gorman hat das berüchtigte Dokument zu einem Erasure-Poem – Auslöschungs-Gedicht – so umgearbeitet, dass der Text die deutungsoffene Schönheit einer Ruine gewinnt: „poetry is misery enough /God knows poetry. / Love is peculiar / of the poet. ardent,“ heißt es darin, also: Dichtung ist Elend genug / Gott kennt Dichtung. / Liebe ist seltsam/ von dem Dichter. glühend.
Sie macht, dass Liebe glüht
Dichtung wäre Elend? Im Gegenteil: Sie macht, dass Liebe glüht, wo vorher Hass glomm, eisig und blau. Es wäre zuviel verlangt, das von Gormans Inaugural-Gedicht zu erwarten, das „The Hill We Climb“ heißen wird.
Aber Hoffnung, die wird es verkünden. Denn nach dem Konföderierten-Aufstand vom 6. Januar sei es eine Herausforderung gewesen, den optimistischen Tonfall beizubehalten, wird sie im Time-Magazine zitiert. Aber es gibt keinen Zweifel daran, dass Amanda Gorman sie bewältigt hat.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!