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■  In die Kategorie „Scheinselbstständige“ fallen nicht nur die berühmten Fahrer des Tiefkühlkostherstellers Eismann. Betroffen sind auch Freiberufler wie die VHS-Dozentin Sylvia Neuendorf, die Zeit für ihr Kind brauchtDie Selbstständigenfalle

Ruhig sitzt sie da, nur die Finger bewegen sich. Der Mund mit den scharfen Linien lächelt aufmunternd. Es ist fünf nach halb zehn und noch immer trödeln Kursteilnehmer in den Raum. Seit 22 Jahren tritt Sylvia Neuendorf, wie eine ordentliche Vollzeitkraft fünfmal die Woche ihren Dienst bei der Volkshochschule Wedding an. Seit zehn Jahren unterrichtet die 49-jährige Anglistin „Deutsch als Fremdsprache“. Der Job hat einen großen Vorteil: Die alleinerziehende Mutter kann nachmittags für ihren zehnjährigen Sohn Elias da sein. Es hat aber auch einen großen Nachteil: Sylvia Neuendorf ist nicht fest angestellt. Sie arbeitet auf Honorarbasis. Weil sie nur einen einzigen Auftraggeber hat, fällt sie unter die berüchtigte Kategorie „scheinselbstständig“.

Den Stein hatte die Dozentin selbst ins Rollen gebracht. Sie hatte dagegen protestiert, dass sie genauso hohe Krankenkassenbeiträge entrichten sollte, wie eine selbstständige Unternehmerin. Ihr Argument: Sie sei eine arbeitnehmerähnliche Selbstständige. Doch diese Kategorie gibt es bei der Krankenkasse nicht. Neuendorf wurde als „Scheinselbstständige“ eingestuft. Ihr Auftraggeber, die Volkshochschule Wedding (VHS), müsste nun den Arbeitgeberanteil an ihrer Sozialversicherung übernehmen. Die VHS aber hat sofort Widerspruch eingelegt.

Die gewerkschaftlich engagierte Lehrerin steckt in der Bredouille. Sie wollte niemanden reinreißen. Jetzt könnte es sein, dass die Sozialkassen alle freiberuflichen DozentInnen an der VHS überprüfen. Denn nur wer für mehrere Auftraggeber arbeitet, gilt sicher nicht als scheinselbstständig. Viele unterrichten jedoch, so wie Sylvia Neuendorf, nur für eine einzige Volkshochschule. Sie befürchten, dass sie keine Aufträge mehr bekommen, wenn ihr Arbeitgeber in Zukunft die Hälfte der Krankenversicherung bezahlen muss. Auch die DozentInnenvertretung an Berlins Volkshochschulen geht davon aus, dass das Land Berlin kein zusätzliches Geld für die Sozialversicherung der Honorarkräfte ausgeben wird. Allein in Berlin hängen mindestens ein Drittel der 5.000 VHS-LehrerInnen am Tropf eines Auftraggebers.

Sylvia Neuendorf verdient 42 Mark für eine Dreiviertelstunde Arbeit mit erwachsenen SchülerInnen. Als sie 1977 direkt nach dem Studium bei der Volkshochschule Neukölln nach Arbeit fragte, waren es gerade mal gut 30 Mark für die Doppelstunde – und selbst dafür ließ Sylvia Neuendorf damals die lukrativen Übersetzungsaufträge für Time Life sausen: „Nur am Schreibtisch – das war mir auf Dauer zu langweilig.“

Anfang der Achtziger verbot Bildungssenatorin Hannah Laurien sogar ihren Gymnasialschul-LehrerInnen einen Nebenjob an den VHS, damit sich die selbstständigen KollegInnen dort in Ruhe ihren eigenen Arbeitsmarkt organisieren konnten. Inzwischen aber hat sich dieser Markt für manche der heute 40- bis 50-Jährigen als Selbstständigenfalle entpuppt. Seit 1991 wurden die Honorare nicht mehr erhöht, der Quereinstieg in die Regelschulen ist verpasst, Aufstiegsmöglichkeiten gibt es kaum. Ein paarmal bewarb sich Sylvia Neuendorf noch auf den Posten der VHS-Fachbereichsleitung. Aber es sollte nicht sein. „Hängen geblieben“ ist sie – auf einem Job mit zehnwöchiger Arbeitsplatzgarantie und 35 Prozent des Einkommens eines Gymnasiallehrers.

„Jung und Alt unter einem Dach“ ist das Unterrichtsthema heute. Streng nach dem Lehrbuch, das für alle Dozenten bindendist. Sylvia Neuendorf kennt das Standardwerk „Themen“ fast auswendig. „Muss man seinen Eltern nicht dankbar sein?“ deklamiert Litifa und wundert sich über dieses komische „nicht“. Und: „Einmal im Jahr leiste ich mir einen langen Urlaub“, sagt Manuel völlig korrekt an. Auf einen Urlaub wird Sylvia Neuendorf hingegen in diesem Jahr wegen der unsicheren Finanzverhältnisse verzichten. Fritz von Klinggräff

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