Psychologin über Gewalttaten: „In der Realität wird die Gefahr oft nicht erkannt“
Sind Fälle wie der Messerangriff von Bielefeld zu verhindern? Psychologin Rebecca Bondü erforscht, wie sich potenzielle Täter durch ihr Verhalten verraten.

taz: Frau Bondü, Sie beschäftigen sich als Psychologin mit dem Verhalten von Gewalttätern, bevor die ihre Pläne umsetzen. Der Verdächtige von Bielefeld soll laut seinen Mitbewohnern ständig vom Töten und „Abschlachten“ geredet haben. Hätten die Behörden ihn aufhalten können?
Rebecca Bondü: Es ist schwer, das eindeutig zu sagen. Wir wissen einfach noch nicht genug über den Fall. Aber es scheint, als habe es Warnsignale gegeben. Wir bezeichnen das als Leaking: Verhaltensweisen, die Ausdruck von Tatgedanken, Tatfantasien oder konkreten Plänen für eine Gewalttat sind. Zeitlich sind diese Phänomene aber noch so weit von der Umsetzung entfernt, dass man intervenieren kann. Wir haben das auch bei vielen anderen Tatverdächtigen aus dem letzten Jahr gesehen. Nehmen wir das Beispiel Magdeburg.
ist Professorin an der Psychologischen Hochschule Berlin. Neben dem Verhalten von Gewalttätern beschäftigt sie sich mit Entwicklungs-, pädagogischer und Familienpsychologie.
taz: Sie meinen den Vorfall aus dem Dezember, bei dem ein Mann sein Auto in den Weihnachtsmarkt lenkte?
Bondü: Genau. Der Tatverdächtige war davor schon jahrelang auffällig gewesen. Beispielsweise drohte er mehrfach mit einem Anschlag, in einem Fall auch mit der Ermordung von Richtern. Kolleginnen hatten den Vorgesetzten informiert, dass es im Arbeitskontext verdächtige Äußerungen gegeben hatte.
taz: Bislang setzt die Polizei oft auf die Analyse sogenannter Risikofaktoren, um gefährliche Personen zu identifizieren.
Bondü: Ich habe mich während meiner Promotion mit Risikofaktoren für Amokläufe an Schulen beschäftigt. Da ging es etwa um Suizidgedanken, Mobbingerfahrungen oder Konsum von Gewaltmedien. Das Problem ist, dass viele solcher Faktoren sich nicht nur bei späteren Tätern finden, sondern viele Jugendliche und auch Erwachsene betreffen, die nie gewalttätig werden. Bei terroristischen Taten finden wir ebenfalls eher unspezifische Risikofaktoren. Auf das konkrete Verhalten der Personen zu schauen, das auf eine Tatintention hindeuten kann, ist da viel präziser.
taz: Ist der Blick auf das soziale Umfeld nicht extrem aufschlussreich, gerade wenn es um mutmaßliche Islamisten geht wie nun in Bielefeld?
Bondü: Zum einen ist es so, dass das nahe soziale Umfeld, Familie, Freunde, Bekannte, häufig über Informationen zu Leaking verfügt, die für die Einschätzung eines Tatrisikos sehr wertvoll sein können. Zum anderen können die sozialen Kontakte selbst in einigen Fällen Hinweise auf eine mögliche Radikalisierung geben.
taz: Sie haben mit ihren Kolleg*innen mehrere Fragenkataloge erstellt, anhand derer beispielsweise die Polizei die Gefährlichkeit von Extremisten einschätzen kann. Welche Verhaltensweisen sollten die Beamt*innen besonders alarmieren?
Bondü: In einem durch das Forschungsministerium finanzierten Projekt haben wir beispielsweise das Risikoanalyseinstrument Lateran-IT entwickelt. Wir konnten durch unsere Forschung Verhaltensweisen identifizieren, die eine möglichst hohe Treffsicherheit haben, also wirklich fast nur bei denjenigen zu beobachten sind, die später gewalttätig werden. Leider nennen wir diese aus Staatsschutzgründen im Bereich der Terrorismus aber nicht öffentlich.
taz: Sie dürfen nichts sagen?
Bondü: Zu den Extremisten nicht. Wir haben die gleiche Analyse aber auch für Täter von Partnerinnentötungen durchgeführt, darüber kann ich sprechen. Wichtige Punkte sind zum Beispiel beobachtbare Tatvorbereitungen oder Tatankündigung gegenüber Dritten. Interessanterweise sind Drohungen gegenüber der betroffenen Frau selbst aber kein guter Indikator.
taz: Das machen auch oft Männer, die später keinen solchen Femizid begehen?
Bondü: Genau. Echte Alarmzeichen sind dagegen auch noch eigene Suizidversuche und Aussagen, in denen andere Femizide gerechtfertigt werden. Und dann haben wir eine ganze Reihe von Indikatoren, die zum sogenannten Opferleaking gehören. Etwa, wenn die betroffene Frau Hilfe sucht oder Kinder außerhalb der Familie über Drohungen berichten. Auch andere Formen von Leaking können aber wichtig sein, weil sie Anlass bieten können, das Verhalten der Person näher zu betrachten.
taz: Wenn betroffene Frauen Hilfe suchen, sollte doch für jede*n leicht erkennbar sein, dass da etwas im Argen liegt …
Bondü: Es scheint so, aber in der Realität wird die Gefahr oft nicht erkannt. Es braucht dringend mehr Wissen über Leaking: Bei Sozialarbeitern, Menschen in Beratungsstellen, Gefängnispersonal, Personal in Frauenhäusern oder beim Jugendamt. Oft sind es aber auch einfach Familienmitglieder, die etwas mitbekommen. Deswegen braucht es in der Gesamtbevölkerung Aufklärung. Sonst beobachten die Leute zwar Leaking, gehen aber nicht zu Meldestellen oder zur Polizei.
taz: Warum nicht?
Bondü: Die Leute sind unsicher. Da wird eine Aussage dann schnell als Scherz abgetan. Oder man will eine Person, die einem nahesteht, nicht den Behörden ausliefern. Manche haben auch einfach selbst Angst vor der Polizei.
taz: Wie lässt sich das ändern?
Bondü: Studien zeigen, dass sich Menschen eher an die Polizei oder an Beratungsstellen beispielsweise zur Extremismusprävention wenden, wenn sie um das Phänomen Leaking wissen. Wir müssen aber auch Hürden senken, etwa indem anonyme Meldungen leichter möglich werden. Andere wollen lieber direkt mit einer Person reden, statt ein Formular auszufüllen. Außerdem hilft es, wenn sich die Leute sicher sein können, dass sie bei der Polizei mit Experten sprechen, die nicht überreagieren und Fälle sehr gut einschätzen können.
taz: Bleibt noch die Frage, ob die Polizei aus solchen Meldungen dann die richtigen Schlüsse zieht. Im Fall des Tatverdächtigen von Magdeburg hatten die Sicherheitsbehörden ja vorab Hinweise. An der Tat gehindert haben sie ihn nicht.
Bondü: Die Polizei muss Meldungen ernst nehmen, Infos müssen ausgetauscht und gebündelt werden, um die Geschehnisse in der Gesamtschau bewerten zu können. Polizisten sagen mir aber auch immer wieder, dass sie aus Datenschutzgründen Probleme haben, an Daten aus vorangegangenen Fällen zu kommen. Hier sollten Wege zum sicheren Austausch von Informationen gefunden werden.
taz: Mal angenommen, alle Infos landen bei der Polizei und die zieht daraus auch die richtigen Schlüsse. Was dann?
Bondü: Der Blick auf Leaking ermöglicht es der Polizei, Prioritäten zu setzen. Personal und Technik können auf Fälle konzentriert werden, bei denen wirklich Gefahr droht, während ungefährliche Personen aussortiert werden.
taz: Einfach verhaften kann man Gefährder aber nicht.
Bondü: Aber die Behörden können Druck machen, etwa durch Durchsuchungen. Im Fall häuslicher Gewalt könnten auch etwa elektronische Fußfesseln Sinn machen, die gerade ja verstärkt diskutiert werden. Psychisch kranke Personen können zumindest zeitweise in Kliniken eingewiesen werden. Und es gibt einen Ansatzpunkt für Sozialarbeiter oder andere Experten von Deradikalisierungsprogrammen.
taz: Wie weit sind wir davon entfernt, dass die Behörden flächendeckend für Leaking sensibilisiert sind?
Bondü: Wir wissen nicht genau, wie viele Polizisten schon mit unseren Instrumenten arbeiten. Überall ist es auf jeden Fall noch nicht im Einsatz. Es wäre gut, wenn die Innenminister der Länder sich damit beschäftigen würden. Es braucht vor allem auch Geld: Die Schulungen zu Leaking und unseren Instrumenten wie Lateran-IT, die wir für Polizisten und andere Berufsgruppen anbieten, bezahlen wir im Moment teils aus Universitätsmitteln.
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