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■ In der Debatte um die Hochschulreform wird Bildung auf die Vermittlung anwendbaren Wissens verengtLieber Bildung statt Ausbildung

Seit letzte Woche Zukunftsminister Jürgen Rüttgers und seine Länderkollegen mit stolzgeschwellter Brust den neuen Kompromiß über das Hochschulrahmengesetz vorlegten und eine neue Bildungsära einleiteten, scheinen die Wolken am Bildungshimmel über Deutschland endlich verflogen: Studiengebühren gibt es vorerst nicht, dafür kürzere Regelstudienzeiten und mehr Konkurrenz der Universitäten untereinander.

Kaum einer merkte noch, daß in den vorangegangenen Diskussionen ein grundsätzliches Nachdenken über Bildung an sich, ihre Funktionen und die an sie gestellten Erwartungen fehlte. Proteste und Kritik an den Rüttgersschen Vorhaben gab es nahezu ausschließlich wegen deren sozialer Unausgewogenheit. Grundfragen wurden nicht gestellt. Und so konnte unreflektiert auf dem Boden falscher Prämissen agiert und ein Kompromiß gefunden werden.

Es sind zwei falsche Annahmen, die als vermeintliche Tatsachen in die Diskussion eingingen und weder thematisiert noch hinterfragt wurden. Die erste Fehlannahme bezieht sich auf die Erwartungen an Bildung. Der Erfolg der Bildung eines einzelnen und des Bildungssystems als Ganzem werden daran gemessen, ob möglichst viele Menschen in kurzer Zeit ein gewisses Pflichtpensum absolvieren und dafür einen akademischen Titel führen dürfen. Was den Inhalt der Pflichtkür angeht, so sollte er vorwiegend aus praktisch anwendbaren Kenntnissen bestehen.

Diese Grundannahme zeigt, daß Bildung eigentlich nur noch eine ausbildungsähnliche Funktion zukommen soll. Für den zu ergreifenden Beruf soll das gelernt werden, was bei der Berufsausübung konkret nützlich ist. Eine solche Funktionszuweisung ist höchst fragwürdig. So kann in Zeiten einer sich immer schneller wandelnden Spezialisierung kaum noch für den Beruf universitär ausgebildet werden. Vielmehr muß das universitäre Lernen dazu führen, daß ein kritisches, komplexes Denken trainiert wird, das für die schnelle Einarbeitung in neue Arbeitsbereiche unabdingbar ist. Ferner wechselt die Faktenlage einer Materie häufig innerhalb weniger Jahre so schnell, daß eigentlich eine eingehende Befassung nur dem Erlernen von bestimmten Methoden und Verfahren dienen kann, nicht aber der Wissensansammlung als solcher.

Des weiteren müssen auch die sozialen Kompetenzen und zwischenmenschlichen Problemlösungsmechanismen sowie das Wissen um gesamtgesellschaftliche Bewegungsdynamiken, die nicht im Lernen und aktiven Partizipieren am Bildungsprozeß inbegriffen sind, sich aber aus ihnen in einem nicht zu unterschätzenden Maß ergeben, in die Erfolgsrechnung mit aufgenommen werden. Sozialer Frieden und konstruktive progressive Politik kommen nicht von ungefähr. Sie resultieren aus der Fähigkeit, irrational begründetes Unverständnis gegenüber Andersartigkeiten durch intellektuelle Verstandesmechanismen auszugleichen. Akademische Freiräume fördern ein Bewußtsein darüber, daß es hinter dem Gegebenen noch etwas anderes geben kann, das sich eventuell sogar überhaupt nicht aus dem Gegebenen herleiten lassen muß. So konnten beispielsweise wichtige politische Strömungen und Impulse, wie die Friedensbewegungen, die Ökobewegungen und die moralischen Freiheitsbewegungen der 68er AusläuferInnen, durch die intellektuelle Linke Deutschlands, die ein Ziehkind des deutschen Bildungssystems war, wesentlich vorangetrieben werden. Zwar lehnte man sich gegen Wertkonservativismus auf, doch geschah dies im wesentlichen in einer konstruktiv-kritischen Weise. Konfrontativ-destruktiven Radikalitäten wurden kaum Freiräume geboten. Dieser kritische Konstruktivismus hat seine unmittelbaren Wurzeln in einem offenen universitären Bildungssystem.

Unbeachtet bleibt auch, daß eine rein funktionalistische Reduktion des menschlichen Daseins, welche hinter den Rüttgersschen Plänen durchschimmert, nicht den ästhetischen Grundbedürfnissen eines Menschen Rechnung trägt. Sie können nur durch eigene Kreativität wirklich gestillt werden. Schafft dies der einzelne nicht, so kommt es zu einem sich verstärkenden konsumtiven Verhältnis zur Ästhetik und dem Glauben, diese vitalen Produkte könnten nur von einer kleinen geisteswissenschaftlichen und künstlerisch aktiven Elite produziert werden. Der Mangel wird unbewußt gespürt. Die damit einhergehende Unfähigkeit zur Artikulation des Unbehagens kann schnell zu Aggressionen und Brutalitäten führen.

Die zweite Fehlannahme bezieht sich auf die Kostenargumente. Sie sind rein populistisch, denn bekanntermaßen lassen sich mit guter Bildungspolitik nur begrenzt Sympathiepunkte erzielen, da kaum jemand den persönlichen oder gesamtgesellschaftlichen Nutzen guter Bildungspolitik erkennt.

Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, daß die diskutierte Materie mit ihr nur sehr begrenzt anhaftenden Problemkomplexen belastet wird, die aber gerade in des Volkes Stimme hoch im Kurs stehen. So wurde auch die Asylgesetzgebung unter dem Stigma der Schonung volkswirtschaftlicher Ressourcen vollkommen entstellt. Gleiches geschieht mit dem Bildungssystem. Wichtige ethische und kulturelle Werte werden für ökonomischen Populismus geopfert. Volkswirtschaftlich scheint es sinnlos, wenn auf dem ohnehin angespannten Arbeitsmarkt auf einmal eine Flut schnell studierter junger Menschen strömt. Mehr Arbeitsplätze wird es nicht geben, eher weniger, wenn nämlich im universitären Bereich Arbeitsplätze gestrichen werden.

Ferner muß gefragt werden, wem eigentlich Langzeitstudierende schaden. Wer studiert, kann als Sozialleistung, abgesehen von seltenen Ausnahmen, nur Bafög- Zuwendungen empfangen und muß diese dann später zur Hälfte zurückzahlen. Sozialhilfe und Arbeitslosengeld darf ein Studierender normalerweise nicht beziehen.

Hat man sich auf diese beiden falschen Grundannahmen erst einmal verständigt, dann ist es nicht mehr weit bis zu der Forderung, sich in jedem Fachbereich nur noch auf das Wesentliche zu konzentrieren. Und Fächer, die ihrer Natur nach nichts Wesentliches in sich bergen, drohen dann abgeschafft zu werden.

Die Art und Weise, wie die Hochschuldiskussionen geführt werden, ist krank. Es werden lediglich Symptome kuriert. Und manchmal erweist sich als Placebo, was als probates Heilmittel ausgegeben wird. Oliver Schilling

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