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In den Sümpfen von Weißrußland

■ Das Leben des Partisanen Tuvia Bielski widerlegt die Legende des passiven Juden. Er rettete 1.200 Menschen, die aus den Ghettos in die Wälder flüchteten

Winter 1942/43, ein Camp in den Sümpfen Weißrußlands. Ein jüdischer Flüchtling aus dem Ghetto Nowogródek findet den Weg zum geheimen Bielski-Lager. Doch Lansman, so der Name des Ankömmlings, war im Ghetto Gestapo-Agent gewesen, bevor er in letzter Minute einer Massenexekution entkam. Aufruhr im Lager, viele kennen den Kollaborateur. Die Insassen und ihr Anführer, Tuvia Bielski, mißtrauen ihm. Was, wenn er davonliefe und den Standort des Lagers an die Nazis verriete? Verräter bleibt Verräter. Das Urteil ist hart und aus der Sicht der meisten Lagerinsassen gerecht: Todesstrafe. Es ist Krieg.

Dies ist eine Episode aus dem spannenden Lebensbericht Nechama Tecs über Tuvia Bielski, den jüdischen Schindler. 1.200 Flüchtlinge rettete er in den Sümpfen der Nalibocka-Wälder westlich von Minsk vor dem Zugriff der Nazis. Wie Nomaden wanderte die Gruppe von Versteck zu Versteck. 49 starben bei Angriffen der Deutschen, einer ertrank, einer wählte den Freitod, vier wurden exekutiert. Bielskis Einheit beteiligte sich an Partisanenaktionen, bestand aber zum größten Teil aus Alten, Frauen und Kindern. Auch Flüchtlinge ohne Waffen nahm Bielski auf. Russische Partisanen betrachteten all diese Menschen als Ballast und unnütze Esser. Bielskis Motto: Es ist besser, einen Juden zu retten als 20 Deutsche zu töten. Ein Ankömmling, überrascht von der freundlichen Aufnahme, erklärte: „Ich dachte, mir sei soeben der Messias begegnet.“

Nechama Tecs faktenreicher Bericht widerlegt eine Legende: die vom Juden als Opfer der Nazis, der sich ohne Widerstand in die Gaskammern führen ließ. Auch wenn das offizielle Deutschland nur die Widerständler des 20. Juli ehrt, wenn darüber hinaus bestenfalls noch die Geschwister Scholl bekannt sind – einen jüdischen Widerstand gab es tatsächlich. Mit ihm konnte die Republik bisher ebensowenig anfangen wie mit dem der Arbeiterbewegung. Dabei beteiligte sich die jüdische Jugend im Land ihrer Henker gegen den Rat der jüdischen Führung erfolgreich an illegal operierenden linken Gruppen. Im „Reich“, so schätzt der Historiker Arnold Paucker in seinem eindrucksvollen Essay „Standhalten und widerstehen“, waren etwa 2.500 Juden als aktive Antifaschisten im Untergrund tätig.

Zehntausende arbeiteten in den besetzten Gebieten gegen die faschistischen Aggressoren: Schon in Spanien waren 15 Prozent der Brigadisten Juden gewesen. Später beteiligten sie sich in Partisanengruppen, etwa bei Tito, in Italien und in der französischen Resistance. Die alliierten Armeen zählten 20.000 deutsche und 15.000 österreichische Juden. Tuvia Bielskis Leben veränderte sich am 8. Mai 1942. Bis dahin hatte seine Gruppe aus einem Dutzend Menschen bestanden. Doch an diesem Tag liquidierten die Nazis 5.670 Insassen des Ghettos Lida, wo zu Kriegsbeginn 9.000 Juden gelebt hatten. Bielski organisierte fortan die Flucht ganzer Gruppen aus den Ghettos im Umland. Der Judenrat agierte gegen solche Fluchtpläne. Er befürchtete, daß die Rache der Nazis die ganze Gemeinschaft treffen werde. Doch Bielski ahnte, daß keiner verschont bleiben würde. Er nahm jeden Flüchtling auf, wies niemanden ab. Je größer die Gruppe, glaubte er, desto besser die Überlebenschancen.

Die Geschichte gab ihm bald recht. Anfang 1943 waren die jüdischen Gemeinden Weißrußlands ausgelöscht: das Ghetto Zoludek wurde schon am 9. Mai liquidiert, Nieswiez am 22. Juli, Zdzienciol am 6. August. Einen Tag später lebten in Nowogródek nur noch wenige hundert von einst 6.000 Juden. Nach dem Ausbruch von 300 Insassen fegten die Nazis am 13. August 1942 das Ghetto Mir weg, am 20. Januar 1943 folgte Iwje.

Am 1. August 1943 begann die „große Hetzjagd“. Beim „Unternehmen Herrmann“ versuchten zwei deutsche Frontdivisionen, jede 10.000 Mann stark, der Partisanen Herr zu werden. Rund 20.000 Einheimische schickten die Deutschen damals als Zwangsarbeiter ins „Reich“, ganze Dörfer wurden verwüstet. Die meisten Partisaneneinheiten mußten schwere Verluste hinnehmen. Doch Bielski gelang es, seine Gruppe ohne Opfer durchzubringen.

Nechama Tec, die als polnische Jüdin mit falscher, christlicher Identität überlebte, will mit ihrem Buch auf „eine ernste Unterlassung und eine ebenso ernste Verzerrung“ aufmerksam machen. Die Unterlassung bestehe in einem „verdächtigen Schweigen über Juden, die selbst vom Tode bedroht, andere retteten“. Als Verzerrung wertet sie die „landläufige Beschreibung der europäischen Juden als passiv in den Tod gehende Opfer“. Einen der Unbeachteten hat sie vor dem Vergessenwerden bewahrt. Tuvia Bielski, Rebell und Retter. Er wurde nach 1945 Taxifahrer in Israel, 1956 Lastwagenfahrer in der Fabrik seines Bruders in den USA. Tuvia Bielski starb 1987. Peter Köpf

Nechama Tec: „Bewaffneter Widerstand. Jüdische Partisanen im Zweiten Weltkrieg“. Bleicher Verlag, 324 Seiten, 44 DM.

Arnold Paucker: „Standhalten und Widerstehen. Der Widerstand deutscher und österreichischer Juden gegen die nationalsozialistische Diktatur“. Klartext, 72 Seiten, 16,80 DM.

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