■ In dem Vorschlag, Krenz & Co. zu begnadigen, spiegelt sich die Instrumentalisierung der Strafjustiz zu politischen Zwecken: Gnade ohne Recht
Die Gnade ist ein Symbol, dass es in der Welt Werte gibt, die aus tieferen Quellen gespeist werden und zu höheren Höhen aufgipfeln als das Recht“, schrieb Gustav Radbruch 1914 in seiner „Rechtsphilosophie“, und der einstige sozialdemokratische Reichsjustizminister erwähnt als Beispiel neben „freudigen vaterländischen Ereignissen“ die „Begnadigung des Barabbas in den Evangelien“. Gnade ist für Radbruch „das gesetzlose Wunder innerhalb der juristischen Gesetzeswelt“. Ein solches Wunder möchten nun, nach der Verurteilung mehrerer Mitglieder des SED-Politbüros als mittelbare Täter von Todesschüssen an der DDR-Grenze, so unterschiedliche PolitikerInnen wie Vera Lengsfeld, Hans-Ulrich Klose, Peter Gauweiler, Antje Vollmer, Christian Ströbele und Rainer Eppelmann bewirken. Die Gründe, die sie dafür vorbringen, sind unterschiedlich, laufen aber auf Zweckmäßigkeitsüberlegungen hinaus: Die einstigen DDR-Politiker sollen keine Märtyrerrolle einnehmen können und Rückfallgefahr bestehe ohnehin nicht.
Es fällt auf, dass die Verfechter einer Begnadigung überwiegend auch zu denen gehören, die die Verfahren der bundesdeutschen Justiz gegen die DDR-Oberen begrüßt und den Schuldspruch gefordert haben. Einerseits eine Verurteilung zu wünschen, andererseits für eine sofortige Begnadigung der zu jahrelangen Haftstrafen Verurteilten einzutreten, das erscheint widersprüchlich. Ein Eindruck, der vertieft wird, wenn man sich die Grundlage anschaut, auf der die Richter entscheiden mussten. Sie haben schließlich Handlungen als strafbar bewertet, die, als sie begangen wurden, als rechtlich einwandfrei galten. Diesen Verstoß gegen das „Rückwirkungsverbot“ legitimierten die Bundesrichter mit einem Rückgriff auf die 1946 von Gustav Radbruch mit Blick auf die Verbrechen im nationalsozialistischen Deutschland geprägte Formel: „Der Konflikt zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, dass das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als 'unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat.“
Um die DDR-Schützen und die politischen Auftraggeber verurteilen zu können, muss ihr durch DDR-Recht legitimiertes Handeln also als Handeln auf Basis „unrichtigen Rechts“ bewertet werden. Damit ist auch der politische Bezugspunkt gewählt: das nationalsozialistische Deutschland. Nach dem 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs sollen Krenz, Schabowski und Kleiber den „Klassenauftrag“ definiert haben, hinter dem sich auch der Schießbefehl verborgen habe, der darauf zielte, die Grenze nach innen zu sichern. Dabei konnte auf Flüchtende geschossen werden – unter Inkaufnahme von Todesfällen. Will man nicht alle strafrechtlichen Kategorien einebnen, ist dieser „Klassenauftrag“ zwar politisch zu kritisieren, kann aber rechtlich gesehen nicht mit der nationalsozialistischen Praxis gleichgestellt werden, als es eindeutige Befehle gab, Behinderte zu töten oder Juden zu vergasen.
Für die Anwendung der Radbruchschen Formel, die grundlegende Rechtsprinzipien außer Kraft setzt, um einer extremen Ausnahmesituation gerecht zu werden, bestand im Falle DDR also kein Grund. Sieht man das anders, wie die meisten derer, die jetzt für eine Begnadigung eintreten, ist schwer erklärlich, welche aus tieferen Quellen gespeisten Werte jetzt die Begnadigung begründen könnten. Radbruch wäre wohl kaum auf die Idee gekommen, die NS-Straftäter, deren Verurteilung er legitimieren wollte, nach dem Richterspruch mit dem „leuchtenden Strahl, der in den Bereich des Rechts aus einer völlig rechtsfremden Welt einbricht und die kühle Düsternis der Rechtswelt erst recht sichtbar macht“, zu beglücken.
Die Argumente, die jetzt für eine Begnadigung vorgebracht werden, sind denn auch schwach: Dass die Politbüromitglieder wohl nicht rückfällig werden, haben sie mit vielen Beziehungstätern gemein, die gleichwohl nicht sofort begnadigt werden. Die Verhinderung des Rückfalls ist zwar ein Ziel des Strafvollzugs, aber als Strafzweck hat sie nur untergeordnete Bedeutung. Auch die Gefahr, dass die Verurteilten als „Märtyrer“ erscheinen könnten, sagt eher etwas über die problematische Qualität des Strafverfahrens aus, als einen Anlass für eine Begnadigung zu bieten. Unterstellt man, die Urteile wären an sich vertretbar, ist übrigens nicht einzusehen, wieso die Politbüromitglieder sofort zu begnadigen sein sollten: Man denke nur an zu lebenslanger Haft verurteilte Menschen, bei denen ebenfalls keine Rückfallgefahr besteht – etwa an die RAF-Mitglieder, die zum Teil schon mehr als zwanzig Jahre in Haft sitzen.
Dennoch gibt es eine Logik, die die Anwendung der Radbruchschen Formel und die Forderung nach Gnade für die auf dieser Grundlage Verurteilten miteinander schlüssig verbindet. Mit der Suspendierung des Rückwirkungsverbotes für die Taten von Funktionären und Funktionsträgern der DDR hat die bundesdeutsche Justiz bereits politischen Opportunitäten in erheblichem Maß Rechnung getragen und den rechtsstaatlichen Weg verlassen. Jetzt die Begnadigung derjenigen zu forden, die durch die politisch motivierte Anwendung des Strafrechts verurteilt wurden, bedeutet, die Instrumentalisierung des Rechts zu politischen Zwecken konsequent weiterzuführen. Das Strafrecht wurde gebraucht, um ein symbolträchtiges Urteil zu fällen, dessen Umsetzung nun unterbleiben soll, weil sie nichts mehr nützt.
Der Prozess erwiese sich auch im Nachhinein als, im Wortsinn, bloßes Schau-Verfahren. So wie er nur unter Ausnahmebedingungen betrieben werden könnte, würde es nun unter Ausnahmebedingungen zu einem Ende gebracht. Die Verurteilten könnten zwar möglicherweise freikommen. Aber nachdem ihnen schon das garantierte Institut des Rückwirkungsverbots vorenthalten wurde, würden sie auch jetzt wieder ohne rechtliche Garantien einem individuellen Akt ausgeliefert sein. Das Begnadigungsverfahren, das im Bund übrigens nach der Gnadenordnung von 1935 betrieben wird, kennt keinen Anspruch auf Gnade und rückt den Antragsteller in die passive Rolle eines Bittstellers. Angesichts dessen ist die von Egon Krenz angestrebte Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte über die Rechtmäßigkeit der Verurteilung der ungleich bessere Weg, die juristische Auseinandersetzung mit der DDR und ihrem Rechtssystem zu einem Abschluss zu bringen.
Oliver Tolmein
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