Im Zeichen der Unendlichkeit: Die Furcht vorm Klassentreffen
Unsere Autorin will nicht zum Jubiläum ihrer Journalistenschule gehen. Wieder mal ein Fall für den Ethikrat.
V or ein paar Wochen bekam ich die Einladung zum Jubiläum meiner Journalistenschule. Im Programm sind Veranstaltungen mit all denen angekündigt, die berühmt und wichtig geworden sind, und ich gehöre ganz sicher nicht dazu. Ich war noch nie bei einem Klassentreffen, außer dem meiner Grundschulklasse, und das ist sehr lange her.
Ist es kleinmütig oder klug, nicht hinzugehen, fragte ich mich und dann dachte ich, dass ich den Ethikrat fragen sollte. Der Rat, das sind drei ältere Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich Hinweise in Fragen praktischer Ethik geben. Zuletzt hatte ich sie in einem Friseursalon getroffen, den sie in einem Moment philosophischen Ungenügens übernommen hatten.
Das Schild „Schöne Schnitte von philosophischer Hand“ hing noch immer im Fenster und zu meiner Überraschung war ein Kunde dort. Der Ratsvorsitzende stand in einem weißen Kittel neben einem Friseurstuhl, in dem ein Punk mit Irokese saß.
„Was habt ihr so“, fragte er und zeigte auf ein Schild, das neben dem Stuhl hing: „Nur hier: Philosophische Symbole gegen geringen Aufpreis“. „Wie wäre es mit dem Unendlichkeitszeichen?“, bot der Ratsvorsitzende an. „Das Runde ist nicht so meins“, sagte der Punk und strich prüfend über die Spitzen seines Irokesen. „Dann vielleicht eine Gleichung“, schlug der Vorsitzende vor. „Wie wäre: kleiner gleich größer, da würden Sie ein Bekenntnis zur Nachhaltigkeit mit eckigen Formen verbinden.“ „Aber kommen wir da in die Höhe, da ist doch wenig Drama drin“, sagte der Punk unzufrieden. „Mal mir das doch mal auf.“ Der Ratsvorsitzende sah ihn unfroh an. Vielleicht war der Rat doch nicht fürs Dienstleistungswesen geschaffen. „Haben Sie Papier bei sich, Frau Gräff?“, wandte er sich an mich.
Selbst konstruiertes Szenario
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
„Bestimmt“, sagte ich und gab ihm einen verknitterten Einkaufszettel. „Kann ich Sie nebenbei etwas fragen?“ „Natürlich“, sagte der Ratsvorsitzende. „Wenn das jetzt nicht ewig dauert“, meinte der Punk, „ich hab auch noch Termine.“ „Ich bin zu einem Klassentreffen eingeladen“, sagte ich, „aber ich möchte nicht hin, weil ich fürchte, dass alle, so ganz nebenbei, erzählen, dass sie Korrespondentleitungsmoderator:indings geworden sind, während ich im Regionalnirgendwo stagniere.“ „Halten Sie es für möglich, dass Sie selbst ein solches Konkurrenzszenario konstruieren“, sagte der Vorsitzende, während er ein ˂=˃ auf meinen Einkaufszettel schrieb.
Der Punk sah kritisch auf den Zettel. „Da fehlt mir die Spannung“, sagte er. „Man könnte es vertikal spiegeln, um mehr Dramatik zu erreichen“, schlug der Ratsvorsitzende vor und drehte den Zettel. „Sorry“, sagte der Punk, „ich fühl das nicht.“ Die Punks sind auch nicht mehr das, was sie mal waren, dachte ich. Ich dachte zurück an das eine Klassentreffen, das ich besucht hatte. Die Jungs, die mich früher mit allen Schikanen niedergemacht hatten, waren von unwirklicher Freundlichkeit gewesen, ebenso wie das Mädchen, mit dem sich meine Schwester auf dem Spielplatz geprügelt hatte. Warum, dachte ich, hat sich der Kleinmut bei mir eingenistet wie die Quecke bei uns im Garten und überwuchert alles andere?
„Ich möchte Ihnen Epiktet in Erinnerung rufen“, sagte der Ratsvorsitzende. „Nicht die Tatsachen selbst beunruhigen die Menschen, sondern die Meinungen darüber.“ In diesem Moment öffnete sich die Tür und eine sehr kleine alte Dame mit weißen Zöpfen betrat den Laden. „Ich suche die Absolventen des Jahrgangs 29 für ein Jubiläumstreffen der Philosophischen Fakultät“, sagte sie und betrachtete nachdenklich den Ratsvorsitzenden. „Man sagte mir, ich solle hier nachforschen.“ „Bedauerlicherweise sind sie verreist“, sagte der Vorsitzende, ohne zu erröten. „Aber ich könnte Ihnen einen Unendlichkeitszopf anbieten.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu
Er wird nicht mehr kommen
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung