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Im Warschauer Tempo

Gute Zeiten für EKO-Stahl: Aus dem ehemals volkseigenen Betrieb ist eines der modernsten Stahlwerke in Europa geworden, statt in Brigaden produziert man jetzt in Business Units. Zum fünfzigjährigen Jubiläum erscheint jetzt eine Firmengeschichte

von HELMUT HÖGE

Maxim Gorki schlug zu Beginn der nachgeholten bolschewistischen Industrialisierung vor, Fabrikbiografien zu verfassen. Einer der ersten Bände, an dem er selbst mitarbeitete, diskreditierte jedoch bereits das ganze Vorhaben: Es ging darin um den Bau des Weißmeerkanals, der allein zu dem Zweck begonnen wurde, tausende Zwangsarbeiter zu verheizen – im Buch wird jedoch vor allem die Resozialisierungsleistung des Projekts gefeiert.

Immerhin beschäftigten sich die Sowjet-Schriftsteller seitdem oft und gerne mit dem Bau von Kraftwerken, Werften, Fabriken und Kolchosen. Später tat man es ihnen in der DDR nach. Erwähnt seien hier die Schriftreihen des Berliner Glühlampenwerks Narva, vor allem der Band „Arbeiter machen Geschichte“, ferner die „Geschichte des Kaliwerks ‚Thomas Müntzer‘ “ in Bischofferode mit dem Titel „Bergmannstaten – Bergmannsglück“, sowie die thematischen Hefte des Filmwerks Orwo, das nun als Museum nur noch Fabrik-Geschichten produziert, zuletzt: „Die Frauen von Orwo“ und „Land der Arbeit“.

Während im Osten die Partei immer Recht hatte, feierten sich im Westen vor allem die Geschäftsführer in ihren „Festschriften“. Erst in den letzten Jahren ging man daran, Historiker von außen für diese Aufgabe heranzuziehen. Dabei kamen einige bemerkenswerte Arbeiten zustande, etwa die von Werner Catrina 1991 publizierte Geschichte des Schweizer Elektrokonzerns Brown Boveri & Cie. bis zur Fusion mit Asea; oder die von Lothar Gall, Gerald D. Feldman, Harold James et al. herausgegebene „Geschichte der Deutschen Bank von 1870 bis 1995“ und „Das Daimler-Benz-Buch“ der Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte, das jedoch gegen den Willen des Konzerns entstand.

Auch bei der EKO Stahl GmbH in Eisenhüttenstadt hat man sich dem allgemeinenTrend zur kurzatmigen Hochglanzprosa der PR-Strategen entgegengestemmt – und für über eine halbe Millionen Mark zwei Wissenschaftler beauftragt, die 50-jährige Firmengeschichte zu schreiben. Das üppig illustrierte und telefonbuchdicke Werk ist sowohl Arbeitergeschichte als auch Firmen-Festschrift. Das Stahlwerk wurde 1950 in der strukturschwachen Oderregion auf Druck der Sowjets projektiert. Sowjetische Ingenieure leiteten auch die Planung. „Die EKO-Baustelle wurde zu einem Sammelbecken für Menschen unterschiedlichster Herkunft. Fast jeder dritte Beschäftigte stammte aus einer Familie, die aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten geflüchtet oder vertrieben worden war“.

Am 10. April 1951 war Richtfest für den ersten Hochofen. Das Erz dafür kam aus Kriwoi Rog und die Kohle aus Schlesien. In den Achtzigern wurde der Betrieb vom österreichischen Konzern VOEST-Alpine technologisch aufgerüstet. Zuletzt beschäftigte er 12.000 Menschen. Nach der Wende wollte die Treuhandanstalt ihn zunächst an die Krupp Stahl AG verkaufen. Diese Privatisierung scheiterte, ebenso wie der Verkauf an die italienische Riva-Gruppe. Inzwischen war sich die westdeutsche Stahlindustrie einig geworden, dass das EKO-Werk aus Gründen der Überproduktion abgewickelt werden musste. Daraufhin geschah, was zur selben Zeit überall im Osten passierte: Roland Berger produzierte teure Gutachten, Berater flogen mit dem Hubschrauber ein, die Treuhand entließ an ihren „Großflugtagen“ massenweise Mitarbeiter. 2.167 wurden „ausgegründet“, etwa 5.000 in einer Beschäftigungsgesellschaft aufgefangen, auf den nicht betriebsnotwendigen Flächen entstand derweil ein Industriepark, ABM-Kräfte sanierten verseuchte Böden, die dann an den Betreiber eines Einkaufscenters verkauft wurden, die jungen Arbeitslosen wurden zusehends rechtsradikaler usw.

Der 50.000-Einwohner-Ort Eisenhüttenstadt existiert jedoch nur vom und für das Stahlwerk, deswegen konnte sich hier ein besonders zäher Widerstand gegen die Abwicklung entfalten, auch die IG Metall legte sich ins Zeug. Über die Landesregierung erreichte man, dass der Kanzler die Privatisierung von EKO Stahl – wie die der Raffinerie in Leuna – zur Chefsache erklärte. Gegen alle Widerstände der Stahlindustrie und der EU wurde das Werk an den belgischen Konzern Cockerill Sambre verkauft. Dieser wurde seinerseits dann aber von dem zuvor ebenfalls privatisierten französischen Stahlkonzern Usinor übernommen. So dass die EKO-Stahlwerker, anfänglich von Moskau befehligt, nun mit dem Pariser Zentralismus hadern – wie der Arbeitsdirektor H. P. Neumann bei der Präsentation des Buches im Französischen Dom (sic!) in Berlin erklärte.

Die wechselnde Namensgebung des Werkes verdeutlicht dies bereits: 1953 verlieh Walter Ulbricht ihm den Namen „Eisenhüttenkombinat J. W. Stalin“ (EKS), ab 1961 hieß es (wieder) „Eisenhüttenkombinat Ost“ (EKO), 1990 wandelte die Treuhand den „VEB Bandstahlkombinat ‚Hermann Matern‘ “ in die EKO Stahl AG um, 1994 wurde daraus eine GmbH, die nach der Doppelprivatisierung als „Profit-Center“ fungieren sollte, wobei E-K-O nun für „Eisen-Kaltwalzen-Oberflächenveredeln“ steht.

Innerhalb des multinationalen Usinor-Konzerns, dessen drei Produktionsbereiche sich in 23 „Business Units“ (BU) gliedern, ist EKO einer von 6 BUs im „Kohlenstoff-Flachstahl-Bereich“. Am Standort Eisenhüttenstadt werden von derzeit 3.020 Beschäftigten verzinkte Bleche für VW, Škoda und Opel produziert. Ein neues EKO-Werk ist in Polen geplant, wo derzeit die Kfz-Branche boomt: Volvo produziert seine sämtlichen Busse dort, Fiat seine Cinquecento und Seicento, Opel den Astra in Gliwice, und Daewoo übernahm gerade die komplette polnische Pkw-Industrie.

Es sieht gut aus für EKO: Das integrierte Stahlwerk ist inzwischen eines der modernsten in Europa und erzielt zum ersten Mal Gewinne, sein Umsatz in Osteuropa hat sich verdoppelt. Man kann also wieder vom „Warschauer Tempo“ sprechen – so hieß 1958 eine erste Frauen-Maurerbrigade im Werk, „die nach dem polnischen Dreiersystem arbeitete, später nach dem russischen Fünfermodell,“ wie die Maurerin Ellen Nitz bei der Buchpräsentation erklärte. Sie kam bereits 1950 auf die Großbaustelle EKO, später heiratete sie einen Journalisten, der einen Artikel über sie geschrieben hatte.

Für die Verfasser der Festschrift, den Leipziger Historiker Herbert Nicolaus und den Berliner Kulturwissenschaftler Lutz Schmidt, sind solche Geschichten wichtig, weil sie das Besondere der EKO-Belegschaft erklären. Diese zeigte vor allem in den ersten Jahren „ganz andere Verhaltensweisen als die aus der traditionellen Arbeiterbewegung bekannten“. Die gemeinsame Aufbauzeit „formte eine starke Identifikation dieser Menschen mit dem Werk und ihrer Stadt und erzeugte gleichzeitig ein besonderes Eigentümerbewusstsein“. In den nach sowjetischem Vorbild entstandenen Produktionsbrigaden wurden sie zwar von Partei und Gewerkschaft ständig reglementiert, gleichzeitig entstand jedoch mit der „Brigadebewegung“ eine Art Gegengewicht. Zweimal würgte die SED-Führung diesen („jugoslawischen“) Kampf für mehr Arbeiterselbstverwaltung ab. Initiiert wurde die „Brigadebewegung“ vom späteren Narva-Kombinatsgründer Rudi Rubbel. Der von ihm aufgezeigte Widerspruch zwischen Plan (von oben) und Eigenwillen (von unten) ist im Übrigen auch mit modernsten japanischen Betriebsorganisationsmethoden – zumindestens langfristig – nicht lösbar, wie sich am Beispiel von Opel Eisenach gezeigt hat. Wenn die EKO-Stahlarbeiter ihre Anfänge im Werk unisono als „schöne Zeit“ bezeichnen, dann ist damit vielleicht auch gemeint, dass damals dieser Widerspruch auch noch von unten „bearbeitet“ wurde. Hinzu kam: Die sowjetischen Ingenieure waren „Meister der Hochofentechnik“, aber „das Ausschlaggebende war, dass sie uns gezeigt haben, wie man mit den Arbeitern, wie man mit den Menschen arbeitet“.

Die neuen französischen Werkseigner scheinen sich dieses Problems bewusst zu sein – ihr Statthalter vor Ort seit 1994, H. K. Albrecht, schreibt: „Uns war von vornherein klar, dass jede Art von ‚Eroberermentalität‘, von ‚Wir sind die Erwerber, ihr seid gekauft‘, von ‚oben‘ und ‚unten‘ vermieden werden musste. Diese leider so oft angetroffene Fehleinstellung, aus der dann Antagonismen à la ‚Wessis versus Ossis‘ erwuchsen, hat es in unserem Fall nicht gegeben.“ Es fand daneben auch kein Austausch von altgedienten Führungskräften – wie sonst überall – statt, wenn man der Festschrift glauben darf.

Die Firmengeschichte ist für 98 DM bei EKO Stahl GmbH, Postfach 7252, 15872 Eisenhüttenstadt zu beziehen

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