„Wer Nazis wählt, ist ein Nazi“

Der ostdeutsche Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk über die kürzlich in einer Studie festgestellten starken autoritären Tendenzen im Osten und die Rolle des Westens

Der Tag der Befreiung, an dem alljährlich sowjetische Soldaten geehrt wurden, markierte in der DDR den Schlussstrich, der Faschismus galt als abgeschafft. Zu Unrecht Foto: ddrbildarchiv.de/Ullstein Bild

Interview Gareth Joswig

taz: Herr Kowalczuk, Sie sind Historiker und haben sich viel mit der Aufarbeitung der DDR beschäftigt. Haben Sie die jüngsten Studienergebnisse zum Hang zum Autoritarismus in Ostdeutschland erschreckt?

Ilko-Sascha Kowalczuk: Sie haben mich nicht wirklich überrascht. Es gibt diese problematischen Tendenzen schon sehr lange – wir sehen sie ungebrochen seit den 1990er Jahren. Wir haben nur versucht, uns das schönzureden und es zu verharmlosen. In jeder Gesellschaft gibt es autoritäre Tendenzen – egal welches politische System – ich schätze, ein Fünftel bis ein Viertel der Gesellschaft ist überhaupt nicht erreichbar. Das zeigen diese Zahlen auf krasse Art und Weise.

Im Westen befürwortet ein Drittel und im Osten teils fast die Hälfte manifest oder latent autoritäre, antifreiheitliche Staatsformen. Wie macht sich das bemerkbar?

Ich komme ja aus Ostdeutschland und habe bereits große Unterschiede zwischen Ost und West wahrgenommen, als ich die ersten Monate nach 1990 in einer linken Kommune in Niedersachsen lebte. Ich hatte gute Gründe, in den 1980er Jahren auf Distanz zur Mehrheitsgesellschaft im Osten zu gehen aufgrund dieser präfaschistischen Disposition, über die niemand so gerne redet.

Nach dem AfD-Wahlsieg in Sonneberg sieht das anders aus.

Aber auch hier wird so getan, als wenn AfD-Wähler arme, verirrte Bürger sind. Aber das stimmt nicht: Wer Nazis wählt, ist ein Nazi.

Größter Hebel für die AfD ist tatsächlich laut Studie „Ausländerfeindlichkeit“ neben dem Hang zum Autoritarismus. Warum ist diese Sehnsucht so groß?

Wir leben in einer unübersichtlichen Zeit mit vielen Herausforderungen. Die meisten Ostdeutschen erleben gerade ihre zweite große Transformationswelle. Für viele Westdeutsche ist die Digitalisierung der Welt die erste große Erfahrung dieser Art. In solchen Zeiten sehnt man sich nach zwei Dingen: nach Sicherheit und nach der Vergangenheit – dabei ist es übrigens scheißegal, wie gut oder schlecht diese war. Manche Leute, die 20 Jahre im Knast waren, sehen sich auch danach zurück. Es werden nachträglich positive Geschichtsbilder konstruiert und die Vergangenheit schöngeredet. Autobiografische Bilder erscheinen passförmig. Auf komplexe Fragen suchen viele einfache Antworten.

Also geht es eigentlich um die Bewältigung eigener Probleme?

Ja, man erhofft sich, dass die starke Hand die Lösung sei. Das wird auch im Rassismus deutlich, wenn 69 Prozent in Ostdeutschland manifest oder latent der Meinung sind, Aus­län­de­r*in­nen kämen nach Deutschland, um den Sozialstaat auszunutzen. Das ist ein vollkommen verqueres Weltbild, das nichts mit der Realität zu tun hat – vor allem nicht in Regionen, wo es überhaupt wenige geflüchtete Menschen gibt. Wir kennen das aus der Geschichte: Man versucht, Gegenwartsprobleme abzuwälzen auf andere Gruppen.

Sie sprachen davon, dass die 80er in der DDR präfaschistisch seien, könnte man auch sagen postfaschistisch? In der DDR war Antifaschismus offiziell Staatsdoktrin. Aber wurde die NS-Zeit in den Familien und der Gesellschaft wirklich aufgearbeitet und inwiefern gibt es Kontinuitäten zum historischen Faschismus?

Da gibt es viele Ähnlichkeiten zwischen Ost und West. Mit dem großen Unterschied, dass im Westen die Auschwitz-Prozesse und die 68er-Bewegung zu einer harten gesellschaftlichen Aussprache geführt haben. Natürlich sind dadurch in der BRD mitnichten alle plötzlich zu Demokraten geworden, aber die Debatte führte doch zur Herausbildung einer starken Zivilgesellschaft, die es im Osten nicht gab, nicht gibt. Wenn im Westen ein Heim mit Geflüchteten brennt, steht die Zivilgesellschaft am nächsten Tag da und demonstriert. Das gibt es im Osten kaum. Es ist heute schon viel besser als vor 20, 30 Jahren, aber die Zivilgesellschaft ist nicht so stabil und abrufbereit wie im Westen.

Wie lief denn die Aufarbeitung der NS-Zeit in der DDR?

Im Osten gab es mit dem „Tag der Befreiung“ einen Schlussstrich und neue Strukturen. Der Faschismus galt mit der Abschaffung des Kapitalismus und durch die Schaffung neuer Strukturen als endgültig überwunden. In der sozialistischen/kommunistischen DDR gäbe es keine Voraussetzung für Faschismus, Nationalismus, Antisemitismus oder Rassismus – das können sie in jedem Wörterbuch der DDR nachlesen. Das glauben heute noch viele.

Wie war es tatsächlich?

Die Voraussetzungen für den Faschismus sind strukturell in ganz Deutschland seit dem 19. Jahrhundert verankert – es gibt diese autoritären Kontinuitäten bis heute. In der DDR wurde Hitler zum Westdeutschen gemacht, wie ein Kollege mal treffend sagte. Es gab nur eine aufoktroyierte öffentliche Auseinandersetzung als Entlastungsstrategie. Die Rechnung war: DDR-Bürger gleich Antifaschist.

Was hat das mit den faschistischen Tendenzen gemacht?

Es führte dazu, dass das Faschistische, egal ob man es jetzt prä- oder post- nennt, im Unterholz vital blieb: Auf Schulhöfen, in Kneipen oder im Arbeitskollektiv waren diese Einstellungen immer abrufbereit. Vielleicht nicht unbedingt in der SED-Parteihochschule, aber zumindest in allen NVA-Kasernen. Die Tabuisierung des Faschismus reizte dazu.

Wie sind Ihre persönlichen Erfahrungen damit?

Foto: imago

Ilko-Sascha Kowalczuk

Jahrgang 1967, geboren in Ostberlin, ist Publizist und Historiker und hat sich viel mit der Aufarbeitung der DDR und den Folgen der SED-Diktatur beschäftigt.

Ich bin sehr eng aufgewachsen in einer großen Familie, die in Ost-Berlin und in mehreren DDR-Regionen lebte. Ich hatte viel zu tun mit meinen drei behinderten Cousins. Zwei waren körperlich stark eingeschränkt und sind nach vielen Krankheiten sehr früh gestorben. Ein anderer gleichaltriger Cousin hat eine geistige Einschränkung. Immer wenn wir in der DDR mit ihnen unterwegs waren, haben wir das Gleiche erlebt, egal ob es im Erzgebirge, an der Ostsee oder in Berlin war. Überall wurde uns hinterhergerufen: „So was hätte es früher nicht gegeben“, „Das hätte der Führer aber anders bereinigt“, „Da hat der Führer wohl was vergessen“ und Ähnliches.

Wann war das?

In den 70ern und 80ern. Es war nichts Einmaliges, sondern etwas Strukturelles. Behinderte Menschen wurden in der DDR wie im gesamten Ostblock überwiegend weggesperrt. Es galt schon als große Leistung, wenn man das behinderte Kind bei sich in der Familie behielt und nicht in irgendwelche Heime gab, die alle fürchterlich waren. Die Kirchen haben sich zwar sehr engagiert für diese Menschen, aber das reichte nicht. Es wurde öffentlich kaum thematisiert.

Diese Form der Diskriminierung gab es im Westen allerdings auch.Aber da gab es auch eine ganz starke Gegenöffentlichkeit. Nehmen Sie mal die TV-Serie „Unser Walter“, in der es in den frühen 1970er Jahren um die Sorgen und Nöte einer Familie mit einem geistig behinderten Kind ging. Das hat sehr zur Sensibilisierung beigetragen.

Was haben diese Erlebnisse mit Ihnen gemacht?

Sie haben mich schon als kleinen Jungen sehr stark geprägt, weil ich das mein ganzes Leben mit meinen Cousins erlebte. Es machte mich sehr diskriminierungssensibel – nicht nur dafür, wie mit behinderten Menschen umgegangen wurde, sondern mit allen, die sich irgendwie vom angeblichen Mainstream unterschieden. Mit all diesen Menschen wird automatisch unter dogmatisch-diktatorischen Umständen fürchterlich umgegangen. Deswegen spreche ich von präfaschistischen Dispositionen, weil das alles lang vor dem Nationalsozialismus begann – damit wurde in Ostdeutschland bis 1989 niemals gebrochen.

Was passierte nach 1989?

„Das erwartet uns in ganz Deutschland, wenn wir nicht dagegen steuern“

Diese Disposition brach nicht einfach, weil die Mauer fiel. Was wir ab den 90er Jahren erlebt haben – der Transformationsschock –, führt zurück zum Kernpunkt: Es gab keine Demokratieschulung im Osten. So etwas wie Re-Education in Westdeutschland durch die Amerikaner fehlte. Alle glaubten nach dem Mauerfall, Demokratie und Freiheit seien selbsterklärend und alle würde das freie Leben mit wehenden Fahnen akzeptieren. Das ist mitnichten so. Im Osten wurde die Freiheit zwar in den 90ern kurz hochgehalten, aber derzeit ist dieser Wert im Sinkflug. Die schlimme Botschaft ist: Auch im Westen kann man erleben, dass viele Dinge heute wichtiger als die Freiheit sind. Aber ohne Freiheit ist alles andere überhaupt nichts wert. Wir erleben seit einigen Jahren, wie sich „Das weiße Band“ aus dem späten 19. Jahrhundert in weiten Teilen Ostdeutschlands regelrecht vitalisiert.

Was hilft denn dagegen?

Wenn es um die Faschisten der AfD geht, brauchen wir einen öffentlichen Freiheitsdiskurs – das Bekenntnis zur Freiheit als Ausgangspunkt. Freiheit lässt sich nur in der Freiheit verraten. Ich habe nach 1990 zu meinem Erstaunen unentwegt erlebt, wie Freiheit im Westen von Leuten, die nichts anderes als ihre eigenen Lebensumstände kannten, mit Füßen getreten wurde – aus einer materiellen Sattheit heraus. Wir leben in einem der sichersten, freiesten und sozialsten Ländern der Erde, aber wenn man hört, was nicht nur AfDler, sondern auch viele Linke oder Leute der sogenannten bürgerlichen Mitte erklären, könnte man annehmen, wir leben in einer Diktatur, in der die Mehrheit am Hungertuch nagt. Natürlich ist vieles zu ändern, besser zu machen, aber nichts davon hätte Wert, wenn wir nicht Freiheit als zentralen Punkt ins Zentrum rücken. Wer die Freiheit angreift, wie etwa die AfD, will die Grundlagen unserer Gesellschaft beseitigen und ein System der starken Hand schaffen – danach sehnen sich ja nicht wenige.

Also ist das nicht nur ein Ost-Problem?

Nein. Zeigt nicht immer nur mit dem Finger auf den Osten. Der Osten ist als Laboratorium der Globalisierung, als Ort der Transformation dem Westen nur ein paar Trippelschritte voraus. Genau deshalb ist die Debatte über den Osten so relevant: Hier – wie zum Teil in Osteuropa – sehen wir Entwicklungen, die europaweit drohen, wenn nicht endlich mal gegengesteuert wird. Das können Sie an vielen demoskopischen Untersuchungen sehen und übrigens auch an den Wahlumfragen der AfD. Die liegt im Osten bei 30 Prozent, im Westen steht sie aber mittlerweile auch bei 15 Prozent, der Westen zieht nach. Deswegen sind der Ostdeutschland-Diskurs und Debatten über Sonneberg wichtig: Wir können hier erleben, was uns in ganz Deutschland erwartet, wenn wir nicht endlich mal gegensteuern.