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Igort und sein Comic „Kokoro“Liebeserklärung mit Retro-Touch

Eine meditative Reise durch die japanische Kultur unternimmt der italienische Comiczeichner Igort in seinem Bilderbuch „Kokoro“.

Porträt aus dem Kapitel über die Gekiga-Bewegung in der Graphic Novel „Kokoro“ Foto: Reprodukt

Japan hat den italienischen Comic­zeichner Igort nachhaltig beeindruckt. Immer wieder kehrt er dorthin zurück, um Freunde zu besuchen, die er in den 1990er Jahren, als er als Mangaka einige Jahre in Tokio arbeitete, kennenlernte, und um ihm lieb gewordene Orte wieder aufzusuchen. Zwei Bücher hat er bereits dieser Liebe gewidmet, die als „Berichte aus Japan“ auch auf Deutsch erschienen sind (2016: „Eine Reise ins Reich der Zeichen“, 2018: „Ein Zeichner auf Wanderschaft“).

Mit dem Bilderbuch „Kokoro“ (wie die anderen Bände im Berliner Reprodukt Verlag erschienen) legt der 1958 geborene Künstler nun noch einmal nach, indem er Skizzen- und Tagebücher verschiedener Japan-Besuche auswertet.

Während die anderen beiden Bände umfassende Exkurse in die Manga-, Anime- und Kunstgeschichte boten, ist der neue Band luftiger und mutet oft wie eine Meditation an. Der Rhythmus ergibt sich aus der Gegenüberstellung pointierter handschriftlicher Notizen mit Zeichnungen Igorts. Das Querformat unterstützt diese Struktur: links steht der Text, rechts ein seitenfüllendes Bild, in feiner Aquarelltechnik angefertigt.

In den Texten erklärt Igort unter anderem japanische Begriffe, die eine spezielle kulturelle Bedeutung haben. So steht am Anfang das titelgebende Wort „Kokoro“, das in Japan das Herz im spirituellen Sinne meint.

Der Comic

Igort: „Kokoro – Der verborgene Klang der Dinge“. Aus dem Italienischen von Myriam Alfano, Handlettering von Michael Hau. Reprodukt Verlag, Berlin 2020, 128 Seiten, gebunden, 24 Euro.

Japanische Variante des „Lolita“-Mythos

Auch manch typisch japanisches (popkulturelles) Phänomen wird beleuchtet, wie eine landeseigene Variante des „Lolita“-Mythos, die sich „kawaii“ nennt (dt. niedlich, liebenswert). Sie zeigt sich vor allem in der parodienhaften Kleidung und dem Gebaren junger Frauen, die stylishe Schulmädchen- oder Krankenschwesteruniformen sowie Miniröcke tragen und dazu eine Art Babysprache sprechen.

Manchmal bilden auch alte Bleistiftskizzen den Ausgangspunkt: In einfachen Notizbüchern, die der Zeichner unterwegs auf seinen Ausflügen in Japan kaufte, hielt er Gedanken fest oder skizzierte Orte und Alltagsgegenstände.

Die meisten Zeichnungen entstehen jedoch aus Vorlagen und Fundstücken. So zeichnet Igort etwa Cover oder Fotos aus alten Zeitschriften der 50er Jahre ab und zaubert daraus sehr stimmungsvolle, pastellfarbene Aquarelle mit Retro-Touch. Auch widmet er den meditativen Filmen Yasujiro Ozus und der Schauspielerin Setsuko Hara ein Kapitel, in dem er den Film „Die Reise nach Tokio“ von 1953 bündig nacherzählt und Schlüsselszenen im Stil japanischer Farbholzschnitte nachzeichnet.

Der Film handelte von einem älteren Paar vom Lande, das seine berufstätigen Kinder in Tokio besucht, dabei prallen zwei unversöhnliche Welten aufeinander. Das Herz des Films ist laut Igort die ausdrucksstarke Setsuko Hara, der es in der Rolle der Schwiegertochter als Einziger gelingt, die alten Leute einzubeziehen.

Eine Verbindung zur Natur

Igort zeigt, was die Filme Ozus ausmachten: Mittels einfachster Geschichten konnten sie starke Emotionen hervorrufen und eine Verbindung zur Natur und zum Leben schlechthin vermitteln. Die Philosophie dahinter wird „Mono no aware“ genannt, eine tiefe Ergriffenheit, die dem Flüchtigen innewohnt.

In einem weiteren Kapitel wird der 79-jährige Mangaka Tadao Tsuge eindrücklich porträtiert, den Igort kennenlernte und der im Schatten seines bekannteren älteren Bruders Yoshiharu steht. Zusammen mit dem Zeichner Yoshihiro Tatsumi prägten die Brüder maßgeblich den Gekiga – anspruchsvolle, düstere Mangas, die auf realistische Weise die Nachkriegszeit widerspiegelten. Igort erfuhr, dass Tsuge eine traumatische, von Gewalt und Armut geprägte Kindheit erlebt hatte, die er in seinen Gekiga schonungslos abbildete.

Sein Anliegen war es, ganz normale Menschen und deren schweren Alltag darzustellen. So kreierten die drei Künstler in den 60ern eine anspruchsvolle Marke, das der heutigen Graphic Novel schon nahekam. Doch Tsuge konnte nicht wie sein Bruder (dessen Werke „Rote Blüten“ und „Der nutzlose Mann“ letztes Jahr erstmals auf Deutsch bei Reprodukt erschienen) dauerhaft vom Zeichnen leben und schuf seine Mangas meist nebenbei.

Neben solch aufschlussreichen wie berührenden Begegnungen ist ein weiterer Höhepunkt im Buch die Zusammenarbeit mit dem Komponisten Ryūichi Sakamoto (bekannt durch Soundtracks wie „Furyo – Merry Christmas, Mr. Lawrence“, „Der letzte Kaiser“), für den Igort 1986 einen futuristischen Comic („Miraiha Yaro – Futurista“) zu einer Platte gestalten sollte. Diese erstmals auf Deutsch abgedruckte Arbeit ist ein schönes Beispiel für den anfangs exzentrisch-experimentellen Stil des Italieners (er datierte die pseudofuturistische Arbeit unter seinem Signet mit 1927!).

Als Zeichner wie als Autor treibt Igort die Neugier an, immer tiefer zum Kokoro, zur japanischen Seele vorzudringen. Als Leser lässt man sich gerne darauf ein, denn man spürt seine tiefe Verbundenheit mit dem Land und seinen Menschen.

Igorts erneuter Blick auf Japan ist eine nachdenkliche, geradezu meditative Reise in die japanische Kultur, die ästhetisch überzeugt. Denn die mit behutsamem Pinselstrich getupften, entrückt wirkenden Bilder scheinen wie von japanischer Hand gezeichnet.

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