Idlib unter massivem Beschuss: Endrunde im Syrien-Krieg

Assad versucht das letzte Rebellengebiet Idlib zu erobern. Er stößt auf erbitterten Widerstand. Kann die Türkei eine politische Lösung herbeiführen?

Menschen flüchten in verstaubten Straßen vor einer Bombardierung

Bombardierungen, kein Vor und Zurück: Für Syriens Binnenvertriebene ist Idlib Endstation Foto: dpa

ISTANBUL taz |Ein Dorf brennt. Eine Kleinstadt liegt in Trümmern. Hunderte Geflüchtete kauern in einem Olivenhain, ohne Nahrung, ohne Zelte, nur mit der Kleidung am Leib, in der sie vor den Bomben flüchteten. Die wenigen Bilder aus dem Krieg im Nordwesten Syriens sind erschütternd – und folgenlos. „Wir werden völlig alleingelassen“, klagen syrische Aktivisten in der Türkei, „niemanden interessiert mehr, was bei uns passiert.“

„Sie bombardieren alles“, sagt Chirurg Wassel Aldschirk, „unser Krankenhaus, Bäckereien und Märkte. Sie wollen die gesamte Versorgung der Bevölkerung unterbrechen.“ Der Arzt in einem Krankenhaus in Idlib berichtete der AP-Reporterin Sarah El Deeb, rund 30 Kliniken und Gesundheitszentren rund um Idlib hätten ihren Betrieb eingestellt, weil sie bereits bombardiert worden seien oder damit rechneten.

Der Krieg in Syrien ist noch einmal voll entbrannt. Die Provinz Idlib an der syrisch-türkischen Grenze ist zusammen mit angrenzenden Teilen der Provinz Hama die letzte Region des Landes, die noch von Aufständischen kontrolliert wird. Lange Zeit hatte das Assad-Regime die Leute hier in Ruhe gelassen, ja sogar besiegten Rebellen aus anderen Landesteilen erlaubt, sich nach Idlib zurückzuziehen. Doch Mitte April begann eine Offensive, unterstützt von der russischen Luftwaffe, um die Rebellenprovinz von Süden her zu erobern. Dabei nehmen die Regierungstruppen keine Rücksicht auf Zivilisten.

300 Zivilisten, darunter 61 Kinder, starben nach UN-Angaben bereits im Bombenhagel oder Artilleriefeuer, 300.000 Menschen sind bereits im Rebellengebiet vertrieben worden. Sie verlassen Städte und Dörfer im Süden und drängen in die Stadt Idlib und weiter nach Norden, Richtung Türkei. Rund drei Millionen Menschen leben in der Provinz Idlib, gut die Hälfte von ihnen floh im Laufe des Krieges aus anderen Teilen des Landes dorthin.

Eine neue islamistische Gruppe ist in der Region

Für Syriens Binnenvertriebene ist Idlib Endstation. Die Türkei hält ihre Grenze geschlossen. Das Land hat bereits 3,5 Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen. Deshalb hatte Präsident Recep Tayyip Erdoğan im September 2018 mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin ein Abkommen geschlossen, das einen Angriff auf Idlib verhindern sollte. Gemeinsam wollten die Türkei und Russland an der Frontlinie eine Pufferzone schaffen, aus der sich alle Rebellen zurückziehen sollten.

Doch es gelang Erdoğan nicht, die Rebellen zum Rückzug zu bewegen. Schlimmer noch: Die von der Türkei unterstützten Rebellengruppen unterlagen in einer Auseinandersetzung im Januar den Islamisten von Hai’at Tahrir al-Sham (HTS), einer Nachfolgeorganisation der mit al-Qaida verbündeten Nusra-Front. HTS konnte nahezu über die gesamte Provinz die Kontrolle gewinnen und hat in Idlib eine „Heilsregierung“ aus Technokraten und Ideologen eingesetzt. Sie sorgen für Strom, Wasser und eine medizinische Grundversorgung und ermöglichen den Verkauf und die Verteilung von Nahrungsmitteln. Frauen müssen sich bedecken, HTS ist aber nicht so rigide wie einst der IS in seinen Gebieten.

Die gegen HTS unterlegenen Gruppen, die mit der Türkei zusammenarbeiten, sind zwar noch in einigen Gebieten präsent, müssen im Moment aber die Dominanz von HTS akzeptieren. Sie haben türkische Truppen bei Patrouillenfahrten in der Pufferzone begleitet, diese hat die türkische Armee aber Ende März eingestellt.

Russischer und syrischer Beschuss muss aufhören

Bei der Offensive des syrischen Regimes wurden zuerst Orte im Süden der Provinz systematisch zerstört. Erstes Ziel der Assad-Truppen ist die Kontrolle der durch das Rebellengebiet führenden Autobahnen, die nach Aleppo führen. Doch sie stoßen auf erheblichen Widerstand. Laut türkischen und arabischen Medien hat die türkische Armee Waffen und Munition an protürkische Rebellengruppen geliefert, darunter Raketenwerfer, panzerbrechende Waffen und gepanzerte Fahrzeuge. Fotos zeigen, dass die mit HTS verfeindeten Gruppen im Kampf gegen Assad zusammenarbeiten. Die Stadt Kfar Nabudah, die die syrische Armee erobert hatte, wurde von den Rebellen kurzfristig wieder besetzt und ein weiterer Vormarsch der Regimetruppen zunächst gestoppt.

Erdoğan hat parallel dazu versucht, Putin zu einem erneuten Waffenstillstand zu bewegen. Doch auch dann bliebe offen, was längerfristig in Idlib geschehen soll. Die Türkei will den Status quo festschreiben – das Assad-Regime will das Gebiet unbedingt wieder unter seine Kontrolle bringen. Russland bewegt sich zwischen den beiden Kontrahenten.

Die Voraussetzung, um den Konflikt „einzufrieren“, wäre, dass der Beschuss russischer und syrischer Stellungen aus Idlib heraus aufhört. Die HTS-Führung soll angeblich zu Gesprächen über einen langfristigen Waffenstillstand mit der Türkei bereit sein. Doch unter den HTS-Kämpfern sollen viele Nichtsyrer sein, die nicht verhandeln wollen. Um ein Blutbad zu verhindern, müssten westliche Länder die Türkei aktiv bei der Suche nach Lösungsangeboten unterstützen.

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