Identitäre Radikale bedrohen Europa: Auf der Schwelle zum Faschismus

„1925 dachten auch alle, ‚Mein Kampf‘ sei nicht ernst zu nehmen.“ Claus Leggewie über Gefahren von rechts.

Claus Leggewie am 22.09.2016 im Gespräch mit taz-Redakteur Jan Feddersen (li.) Bild: Wolfgang Borrs

BERLIN taz | Trotz hartem Thema zeigte sich der Politikwissenschaftler Claus Leggewie am Donnerstagabend in bester Plauschlaune. Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „taz.meinland – taz on tour für eine offene Gesellschaft“ stellte er im taz Café sein neues Buch vor.

Leggewie ist Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen und Mitherausgeber der Fachzeitschrift „Blätter für deutsche und internationale Politik“. Sein 176-seitiger Essay, erschienen bei Suhrkamp, trägt den Namen: „Die Anti-Europäer. Breivik, Dugin, al-Suri & Co.“. Redegelaunt führte Jan Feddersen als Moderator durch den Abend.

Im ersten Teil der Veranstaltung las Leggewie die Einleitung aus seinem „Gegnerstück“, wie er es nennt. Seine These: Europa sei den Gefahren der Identitären ausgesetzt. „Ich bin nicht der Auffassung, dass wir im Jahr 1933 leben“, sagt er, wohl aber sei die Situation mit den 1920ern der Weimarer Republik vergleichbar.

Narzistische Persönlichkeiten

Zur Analyse herangezogen hat Leggewie die Hasspamphlete des Massenmörder Anders Breivik, des Dschihadisten Abu Musab al-Suri und des „Eurasier” und Putin-Berater Alexander Dugin. Gemeinsam hätten seine drei Protagonisten ihre Sicht auf die Welt, die sie in Gut und Böse teilen. Aufgrund ihrer narzisstischen Persönlichkeiten verstünden sie sich selbst als alleinige Retter aus den Qualen des Jetzt.

ist Politikwissenschaftler und Leiter des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen. Er beschäftigt sich mit dem Nachleben der Geschichte in der kollektiven Erinnerung, mit den Grundlagen kooperativen Verhaltens in multikulturellen Gesellschaften und mit den Chancen der Demokratie in aktuellen Herausforderungen.

Wie für Claus Leggewie üblich, erörtert er im gedanklichen Monolog Für und Wider, ob man die einsamen Wölfe als „Spinner“ abtun solle, oder aber deren Wirkungsmacht möglicherweise unterschätzt. „1925 dachten auch alle, Hitlers ‚Mein Kampf‘ sei nicht ernst zu nehmen.“

Im Essay, so kündigt er es in seiner vorgelesenen Einleitung an, gehe er schließlich auch auf die virtuellen Resonanzräume der rechten Schreiber ein, deren Texte im Internet frei verfügbar sind.

Ein „Russenversteher“, kein „Putin-Versteher“

Im Anschluss schlug er gemeinsam mit Jan Feddersen einen weiten Bogen von der Schwulenfeindlichkeit der Hassprediger bis zum tiefsitzenden Revanchegefühl vieler Rechter gegenüber der linksliberalen Hegemonie der vergangenen Jahrzehnte.

Dabei outete sich Leggewie gleich zwei Mal. Er sei „Russenversteher“, was man keineswegs mit „Putin-Versteher“ verwechseln dürfe, und er sei ein „Merkelianer“. Zwar unterstützt Leggewie die Flüchtlingspolitik, der Alt-68er sieht aber die Verdrängung anderer Themen, etwa seiner Vision eines nachhaltigen, offenen und sozialen Europas als ebenso großes Problem an. „Ich habe es satt, dass Talkshows und Schlagzeilen nur noch mit der Flüchtlingskrise gemacht werden.“

Schließlich sprach Leggewie noch von einem spannenden Mailwechsel mit dem AfD-Aktivisten und Rechtspublizisten Götz Kubitschek. Dieser sei vergleichbar mit der RAF-Terroristin Ulrike Meinhof: „Die Identitären, die AfD, stehen auf der Schwelle zum Faschismus“.

 

TIMO LEHMANN, Mitarbeiter der taz