: „Ich besitze ja kein Patentrezept aufs Glücklichsein“
Matze Lawin hat eine Beeinträchtigung und ist DJ – halt einer mit kürzeren Armen. Damit ist er schon ein Vorbild. Und es gab auch eine Zeit, in der er das Angestarrtwerden nicht ertragen konnte

Interview Louisa Eck Foto Hannes von der Fecht
taz: Herr Lawin, ist es schwierig, als contergangeschädigte Person DJ zu sein?
Matze Lawin: Es ist wie immer in meinem Leben: Die Leute verbinden mit einem DJ, der für die Kultur- und Alternativszene auflegt, nicht jemanden mit kurzen Armen. Das bedeutet, dass ich in meinem Leben schon mit Menschen zu tun hatte, die das gar nicht so cool fanden, dass ich DJ bin. Weil sie das mit mir nicht in Verbindung bringen wollten.
taz: Was meinen Sie mit „nicht so cool“?
Lawin: Diese paar Male, von denen ich jetzt gesprochen habe, waren richtige Anfeindungen. Und das war so massiv, dass ich emotional gar nicht so schnell wechseln konnte, weil ich mich gefragt habe, was hier gerade passiert. Aber ich habe über die Zeit ein sehr großes Selbstbewusstsein entwickelt.
taz: Dieses Selbstbewusstsein hilft Ihnen also, über solche Anfeindungen drüber stehen zu können?
Lawin: Drüber stehen tut man glaube ich nicht, wenn man so direkt angefeindet wird. Das wäre zu viel gesagt. Man ist schon verletzt und ein bisschen verwundert, was das soll. Selbst wenn das ein Idiot ist, der da vor dir steht. Aber ich habe versucht, das immer möglichst schnell abzustreifen, weil, das lange mitzunehmen, macht wenig Sinn, da es einen auch nur runterziehen würde.
taz: Waren solche negativen Erfahrungen die Norm?
Lawin: Gar nicht. Sehr viel mehr habe ich es umgekehrt erlebt, dass die Leute es ganz cool fanden, dass gerade ich da als DJ vor ihnen stehe. Und du bekommst als DJ natürlich eine andere Aufmerksamkeit im Leben als in einem anderen Job. Wenn du in einer Disco auflegst, wo jede Nacht bis zu 300 Leute bei dir sind.
taz: War DJ schon immer Ihr Traumjob?
Lawin: Ich habe als junger Typ mit 20 angefangen, Behindertenpädagogik zu studieren. Durch Zufall bin ich in diese DJ-Geschichte gerutscht und habe gemerkt, Musik hat schon immer mein Leben bestimmt und war das, was mir am meisten Spaß gemacht hat. Und weil ich als DJ in einer Disco angefangen habe, um mir ein bisschen Geld im Studium zu verdienen, habe ich gemerkt, da geht vielleicht noch viel mehr. Dann habe ich tatsächlich das Studium geworfen.
taz: Warum wollten Sie das Studium nicht noch beenden?
Lawin: Das war im Nachhinein dumm von mir, denn ich war kurz vor der Abgabe meiner Abschlussarbeit. Aber es gab damals Sachen, die mich sehr mitgenommen haben. Die Trennung von der Mutter meiner Tochter, schwierige Lebensumstände, eine renovierungsbedürftige Wohnung. Das hat mich beeinträchtigt und auch davon abgehalten, diesen Weg zu gehen. Heute ist es für mich so leichter zu erklären, warum ich idiotischerweise diese Arbeit nicht abgegeben habe.
taz: Bereuen Sie es?
Lawin: Nein.
taz: Warum nicht?
Lawin: Weil ich ein tolles Leben habe. Weil ich auch ganz besondere Menschen kennengelernt habe. Und ich habe meine Reisen machen können, weil ich als DJ gut Geld verdient habe.
taz: Also war es auch finanziell gesehen die richtige Entscheidung?
Lawin: Ja, ich habe tatsächlich als DJ gut verdient. Ich habe am Wochenende freitags ein Clubprojekt gemacht und samstags war ich jahrelang ausgebucht für Privatpartys, da wirst du auch gut bezahlt. Wenn dann der Winter und Regen kommt, habe ich immer gesagt, ich kann mich in leichten Klamotten besser bewegen, ich muss ins Warme. Dann bin ich in den Wintermonaten gereist und den Rest im Jahr habe ich aufgelegt.
taz: War das Reisen eine Flucht vor den für Sie schwierigeren Umständen des deutschen Winters?
Lawin: Es war kein Fliehen. Ich habe es gemacht, weil ich es konnte. Ich wäre auch hier klargekommen, auch mit einer dicken Jacke und allem. Man muss da schon differenzieren. Es war keine Flucht, aber es war einfach ein unheimlich schönes Gefühl, dass ich das machen konnte. Weil ich es mir leisten konnte, das zu tun, womit ich mich wohler und freier fühle. Meine Träume leben.
taz: Hat Sie das Reisen deshalb so begeistert?
Lawin: Nicht nur. Ich hatte auch viele spannende Begegnungen. Es gibt Menschen in anderen Kulturen, die feiern es regelrecht, dass ich rausgehe und mich zeige. Aber es gibt auch Leute, die erschrocken sind. Und es gibt Leute, die es nicht fassen können. Ich habe Leute kennengelernt, die wollten von mir wissen, wie ich das schaffe, diese Autonomie zu leben? Sie wollten Rat von mir haben.
taz: Welchen Rat?
Lawin: Sie dachten, vielleicht können sie von mir erfahren … Ich will jetzt nicht sagen, wie Autonomie geht, aber wie man es schafft, mit Einschränkungen diesen Mut zu entwickeln, dazu zu stehen und vielleicht sogar noch Lebensfreude auszudrücken. Aber ich besitze ja kein Patentrezept aufs Glücklichsein und auf Autonomie, denn ich habe meinen ganz, ganz eigenen Weg gelebt. Man kann diese Leben nicht übereinanderlegen. Es hat alles mit dir zu tun. Deine eigene Kindheit, deine Erziehung, deine Freundin, deine Freunde, dein Umfeld.
taz: Wie war Ihre Kindheit?
Lawin: Ich bin in einem Landgasthaus groß geworden mit vier Geschwistern. Da könnte man denken, ich wurde mit vielen Menschen konfrontiert, mit den Gästen. Das war schon auch okay für mich. Aber das Leben als Kind unter Kindern nicht. Ich brauchte immer meine eigenen bekannten Räume. Die Kindergartengruppe war nach drei Monaten okay und die Schulklasse war auch nach drei Monaten okay. Aber wenn ich auf dem Schulhof war oder meine Mutter mit mir ins Eiscafé wollte, habe ich dem nicht standgehalten. Ich habe das, ehrlich gesagt, gar nicht versucht, weil ich so geschockt war von der Intensität, mit der ich angestarrt worden bin. Oder von Kindern wurde gefragt: „Warum hat der Junge denn so kurze Arme?“ und „Guck mal, Mama, guck mal!“ Da war ich die ganze Zeit dermaßen in der Schusslinie, und das habe ich auch wirklich als Schusslinie empfunden, dass ich die Kraft gar nicht hatte.
taz: Was hätte die Situation für Sie damals verbessert?
Lawin: Das ist eine echt schwierige Frage. Weil ich es selber nicht weiß. Ich habe viel reflektiert über mein Leben. Ich glaube, dass Entwicklung unheimlich viel mit uns macht. Entwicklung, Reflexion, aber auch Erfahrung. Und wenn du als Kind nicht so erfahren bist, aber zwangsläufig damit konfrontiert wirst, dass du anders bist und voll aus dem Rahmen fällst, dann ist das schwer zu handlen. Meine Mutter wollte ja, die ist mit mir schwimmen gegangen und die wollte, dass wir mal in die Eisdiele gehen. Aber ich wollte nicht. Sie konnte mich auch nicht drängen. Und wenn man mich fragen würde, wie hätte es anders laufen können, hätten deine Eltern was anderes machen können? Ich glaube nicht, weil sie das Know-how nicht hatten.
taz: Vielleicht hätte es geholfen, andere Kinder mit ähnlichen Einschränkungen kennenzulernen.
Lawin: Ich bin mit elf Jahren in ein Internat für Körperbehinderte gekommen und da war der Zug für mich völlig abgefahren. Weil ich dann mit Menschen zusammen war, die sich alle so gefühlt haben wie ich. Ich habe mich gefühlt wie in einem Knast, in dem sich alle bekriegen.
taz: Wie erklären Sie sich diese Zustände?
Lawin: Ich glaube, jeder, der in dieses Internat gekommen ist, wollte da nicht sein. Da sind die Leute hingekommen, weil das den Eltern gesagt wurde. Die Kinder könnten später nicht mit den Händen arbeiten, sie müssen sehr schlau werden, also werden sie schulisch gedrillt. Was vielleicht ein guter Ansatz war, hat sich dann als fatal erwiesen, weil die Kinder eben nicht da sein wollten. Das ist so, wie man es aus Tierfilmen kennt. Wenn zehn Hunde in einem kleinen Käfig eingesperrt sind und anfangen zu beißen, weil sie nicht genug Raum für sich haben, um sich entwickeln zu können.
Der Mensch
Matze Lawin wurde 1961 in Bad Oyenhausen geboren. Er wollte eigentlich Behindertenpädagoge werden, hat dann als DJ angefangen und seine Leidenschaft für Musik zum Vollzeitberuf gemacht. In seiner Freizeit reist er durch die Welt, am liebsten ins Warme. Auf öffentlichen Veranstaltungen legt Lawin mittlerweile nur noch wenig auf. Seit knapp 10 Jahren ist Lawin ehrenamtlich in der Hospizarbeit tätig, nachdem er bei einem Bekannten gesehen hat, wie wichtig die Trauerbegleitung nach einem Todesfall ist. Es macht ihn, sagt er, glücklich, die Kraft zu haben, einem Menschen auf diesem letzten Weg beizustehen.
Das Buch
Über seine Erfahrungen und den Weg zur Autonomie hat Lawin ein Buch geschrieben. „Das Leben ist zu kurz für lange Arme: Empowerment zur radikalen Selbstakzeptanz“ ist 2024 beim Omnino Verlag erschienen.
taz: Wie sind Sie der Situation entkommen?
Lawin: Ich war schlau genug, um das Ganze zu torpedieren. Ich habe bei den Klassenarbeiten den Stift hingelegt und mich verweigert. Dann habe ich es geschafft, von einem Schüler, der zwischen eins und zwei gestanden hat, auf Fünfen und Sechsen zu kommen. Irgendwann hat die Schule bei meinen Eltern angerufen und gesagt „Wir wissen, dass er es kann, aber er wird sowieso nicht versetzt dieses Jahr. Er will es nicht, und auch in fünf Jahren würden wir ihn nicht versetzen und dann kommt er nicht aus der siebten Klasse raus. Das macht überhaupt keinen Sinn. Nehmen Sie ihn wieder nach Hause.“
taz: Wie ging es Ihnen danach?
Lawin: Da wurde das alles noch schlimmer. Ich war dann 13 und war zweieinhalb Jahre abgeschottet gewesen. Und da habe ich dann erst viel später reflektiert, dass diese Art von Abschottung, die ich als Kind so geliebt habe, eben nicht safe war.
taz: Hat sich das gebessert?
Lawin: Ich war nach relativ kurzer Zeit in der neuen Schule sehr beliebt und hatte viele Freunde und habe mich auch tatsächlich wohlgefühlt. Glücklich ist vielleicht übertrieben, aber ich war sehr zufrieden. Meine Noten haben sich auch gebessert, aber es war auch schwierig für mich, weil, wenn du zweieinhalb Jahre aufhörst zu lernen, da fehlt dir tatsächlich viel Stoff. Ich hatte sehr viele Defizite, die ich aufholen musste.
taz: Ist Ihnen dort auch Behindertenfeindlichkeit begegnet?
Lawin: Eines Tages kam der Biologielehrer auf mich zu und sagt, er hätte sich mal informiert, ob es nicht eine Idee wäre für mich, Prothesen zu tragen, damit ich nicht überall angeguckt werde. Und vielleicht würde es mir dann leichter fallen, Mädchen kennenzulernen, die dann vielleicht auch mit mir gehen würden. Da war ich ziemlich geschockt, weil wir haben uns geduzt, er war ein sehr lockerer Lehrer.
taz: Wie sind Sie damit umgegangen?
Lawin: Ich habe erst mal eine Nacht darüber geschlafen und beim nächsten Mal Bio habe ich ihm gesagt, dass ich ihn nicht verstehen würde. Er würde mich doch hier erleben in der Schule. Und ob er dann glaubt, dass es schlau wäre, dass ich ein Vierteljahr lerne, eine Tasse hochzuheben mit so einer Prothese, obwohl ich das ja so auch hinbekomme. Das macht ja überhaupt keinen Sinn. Da war ich richtig genervt von ihm, dass er mir diesen Vorschlag gemacht hat, obwohl er gemerkt hat, dass ich gerade angefangen habe, Autonomie zu lernen.
taz: Sie erinnern sich daran noch sehr genau.
Lawin: Es bleibt fürs ganze Leben hängen, weil er war mehr oder weniger mein Lieblingslehrer, eine Vertrauensperson. Danach war das nicht mehr so, das hat unser Verhältnis komplett verändert, weil ich das so als Affront gesehen habe für mein Leben. Meine Reaktionen auf so was wurden in meiner Jugend aber auch krasser.
taz: Inwiefern?
Lawin: Wenn man zum Beispiel in der Fußgängerzone mit 17 Jahren angesprochen wird, man hätte dich damals auch vergasen sollen, dann ist das etwas, was man nicht so einfach schluckt. Es gab diese Zeit als Jugendlicher, in der ich so einen Hass auf die Gesellschaft hatte. Da konnte ich diese ganzen Blicke nicht mehr ertragen, dieses ständige im Mittelpunkt stehen. Und da war es schon so, wenn jemand beim Bäcker netterweise gefragt hat, ob man mir die Brötchentüte geben soll, dann habe ich die angeraunzt und gesagt, „Siehst du nicht, dass ich das selber hinbekomme?“ Ich war anderen gegenüber sehr heftig, wenn ich gemerkt habe, ich werde angestarrt. Dann habe ich die Leute gefragt, warum die so blöd gucken. Oder ob die ein Problem mit mir haben.
taz: Wie bewerten Sie Ihr damaliges Verhalten im Nachhinein?
Lawin: Es war ein Teil meiner Entwicklungsgeschichte, und vielleicht war es gut, dass ich mich wichtig genommen habe und diese Kraft hatte, dagegenzuhalten. Ich glaube, es ist gut im Leben, nicht immer nur einzusehen und zurückzuziehen. Sondern vielleicht hat mir gerade dieser Umgang damit richtig viel gebracht. Und selbst wenn es mir gar nichts gebracht hat, sondern ein Rückschritt gewesen ist, war es vielleicht trotzdem gut. Das mal gemacht zu haben, um es später im Leben anders zu machen. Es durch Reflexion nicht zu machen, aber zu wissen, dass ich es kann.
taz: Weil Sie so mit der Heftigkeit auch gelernt haben, für sich einzustehen?
Lawin: Ja. Deswegen würde ich nicht sagen, dass ich es bereue. Ich würde niemals hingehen und sagen, genau das ist der richtige Weg. Ich würde sagen, die Person müsse es sich gut überlegen. Aber wenn es jemand tut, dann wäre ich der Erste, der es versteht.
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