Ibrahim Arslan über Anschlag von Mölln: „Wir waren der Schandfleck“
Als Neonazis im November 1992 das Haus in Brand setzten, in dem er mit seiner Familie lebte, war Ibrahim Arslan 7 Jahre alt. Drei Verwandte starben.
taz: Herr Arslan, ist es schwer, über diese Nacht zu sprechen?
Ibrahim Arslan: Natürlich ist es schwer. Es ist schwer über alle faschistischen Angriffe zu sprechen. Dieser Anschlag hier ist ein Teil meines Lebens, er berührt mich, auch meinen Alltag. Ich leide weiter unter diesem Anschlag.
Wie?
Ich habe eine posttraumatische Belastungsstörung, chronischen Husten. Ich litt unter Schlafstörungen und Verfolgungswahn. Der Husten ist geblieben. Er wird schlimmer, wenn ich drüber spreche, schlimmer am Abend, wenn ich etwas Verbranntes rieche und wenn der Tag näher kommt.
So wie jetzt?
Ja.
Sie haben Albträume?
Ja. Ich habe nur ein Bild vor Augen, wenn ich an diese Nacht denke. Ich saß ja neben dem Kühlschrank, meine Großmutter hat mich mit nassen Tüchern eingewickelt, die Feuerwehr spritzt eiskaltes Wasser aufs Haus, ich friere. Ich sehe nur einen brennenden Hintergrund und Töpfe. Das hab ich jahrelang jede Nacht geträumt: Flammen im Hintergrund und die Töpfe in unserer Küche.
27, überlebt den Brandanschlag in der Nacht vom vom 23. auf den 24. November 1992, weil ihm seine Großmutter Bahide das Leben rettet. Seine Schwester Yeliz und seine Cousine Ayse Yilmaz sterben. Heute arbeitet er in der Kaffeebranche und setzt sich gegen Neonazismus und Rassismus ein.
Ist es nicht nur schwer, hilft es auch, drüber zu sprechen?
Ja, auf jeden Fall. Wenn ich mit Menschen rede, die nichts davon wissen, erleichtert mich das.
Sprechen Sie in der Familie darüber?
Ständig, vor allem wenn der Tag näher kommt. Wir wollen nicht darüber sprechen, aber wir tun es. Wir sprechen nicht über die Details, wir sprechen über das Persönliche.
Was empfinden Sie Ihrer Großmutter gegenüber?
Das ist sehr schwer. Ich bin ihr dankbar, ich verdanke ihr mein Leben, ich bin ihr mein Leben schuldig. Ich erinnere mich an sie, wie sich ein Siebenjähriger an seine Oma erinnert.
Fühlen Sie sich schuldig?
Weil ich lebe und sie nicht? Nein, fühle ich mich nicht. Warum sollte ich? Mit dieser Frage beschäftige ich mich nicht. Ich weiß, dass ich an ihrer Stelle genauso gehandelt hätte.
Was empfinden sie Ihrer Schwester gegenüber?
Yeliz war ein sympathisches, nettes Mädchen. Sie hat mir ihr Schulgeld und ihr Taschengeld gegeben, damit ich mir was kaufen kann. Sie ist mit mir an der Hand über die Straße gegangen, sie war meine große Schwester.
Wie haben ihre Mitschüler reagiert?
Schlecht, sehr schlecht, ich war in der Grundschule, in der zweiten Klasse. Meine Mitschüler waren nicht solidarisch, sind nicht so mit mir umgegangen, wie man mit einem kleinen Jungen umgeht, dem das angetan wurde. Die haben mich zusammengeschlagen und „scheiß Ausländer“ gerufen.
Sind Sie zu den Lehrern gegangen?
Ja, die Lehrer haben nicht eingegriffen, die haben mir nicht geglaubt. Das war hart.
Sind Sie in Mölln auf der Straße angesprochen worden?
Oft. Nicht auf das, was passiert ist, das wussten ja alle, sondern darauf, dass wir noch da sind. Das wurde negativ gesehen, die Leute wollten, dass wir weggehen.
Sie sind als Ausländer diskriminiert worden und als Opfer des Anschlags?
Ich kann mich erinnern, wie ich mit dem Fahrrad vom Bolzplatz nach Hause radle. Die Polizei hält mich an, ich hab’ keinen Helm auf. Der Polizist sagt: „Arslan, Du bekommst keine Strafe, Du landest sowieso im Knast, wenn Du älter wirst.“ Beim „Tag der offenen Tür“ der Polizei steh ich mit den Jungs vor der Wache und der Polizist sagt: „Du kommst hier nicht rein, Du siehst das bald sowieso von innen.“
Die Nazis haben Ihr Haus zerstört, wo haben Sie gewohnt?
Wir haben zunächst im Gästehaus von Mölln gelebt, dann in einem unbewohnten Haus zur Überbrückung, bis das abgebrannte Haus renoviert ist. Irgendwann hat man uns vor die Alternative gestellt: Entweder Container oder in das Haus zurück, in dem uns das ganze Leid angetan wurde. Wir haben dann in dem Haus gewohnt, aber das ging nicht. Mein Vater bekam keinen Job mehr, ich hatte keine Ausbildungsperspektive. Nicht die Nazis, wir waren der Schandfleck von Mölln.
Weil Ihr Mölln an den Schandfleck erinnert habt?
Ja, den Schandfleck in ihrer Mitte. Den Rassismus, den Faschismus, den wischt man nicht weg, mit dem Opfer geht das.
Sie leben nicht mehr in Mölln?
Nein.
Wie ist es, nach Mölln zurückzukommen?
Beschissen. Mit Mölln verbindet mich nur der Anschlag, nur schreckliche Dinge. Das einzig Positive sind meine Freunde dort, sonst erinnert mich jedes Haus, jeder Pflasterstein an den Anschlag.
Wie ist das offizielle Mölln mit dem Anschlag umgegangen?
Wir wurden nicht respektvoll behandelt. Das Haus wurde zwar nach meiner Großmutter benannt, aber es ist keine Gedenkstätte. Auf der Gedenktafel steht nicht, dass Neonazis den Brandanschlag verübt haben. Die Gedenkfeiern wurden 18 Jahre lang so gemacht, wie die Stadt das wollte, wir waren Figuren am Rand. Es wurden Reden gehalten, am Ende ein Satz zu den Arslans. Danke, Applaus, auf Wiedersehen. Der Bürgermeister von Mölln lädt andere Politiker anderer Städte, in denen Anschläge waren, ein, aber nicht die Opfer.
Die Opfer stören.
Genau.
Sie organisieren die Gedenkveranstaltungen in diesem Jahr so, wie Sie das wollen?
Ja, es gibt einen Freundeskreis, der zusammen mit uns in Mölln Gedenkveranstaltungen organisiert, bei der die Opfer im Vordergrund stehen. Was der Stadtverwaltung nicht gefällt.
Um was geht es bei diesen Veranstaltungen?
Um die Opfer. Sie sollen ihre Stimmer erheben, wir sind keine Statisten, wir sind die Zeugen des Geschehens, wir müssen sprechen.
Wie bei den NSU-Morden wurden auch in Mölln die Falschen verdächtigt, obwohl die Sache klar war.
Das war auch in Ludwigshafen und Lübeck so. Erst wurde mein Vater verdächtigt, der in der Nacht in Hamburg war, dann andere Türken aus Mölln, obwohl die Täter nach jedem Anschlag bei der Polizei anriefen und sagten: „In der Ratzeburger Straße brennt ein Haus. Heil Hitler!“, und: „In der Mühlenstraße brennt ein Haus. Heil Hitler!“ Da hat sich in Deutschland nichts verändert. Da ist ein tief sitzender Rassismus, bei der Polizei, beim Verfassungsschutz, in den Ämtern, in der Mitte der Gesellschaft. Ich habe das Gefühl, das ist schlimmer geworden.
Warum?
Vor ein paar Jahren konnte man die Nazis noch identifizieren, die hatten Springerstiefel und Bomberjacken an. Das ist heute anders. Die tarnen sich, die sind nicht mehr zu erkennen. Ich habe kein Vertrauen in den deutschen Staat, ich wüsste nicht, wen ich anrufen sollte, wenn was passiert.
Die beiden Täter sind inzwischen auf freiem Fuß?
Ja.
Haben die Kontakt zu Ihnen aufgenommen?
Nein, das möchten wir nicht. Die wissen nicht, wo wir leben, ich möchte nicht wissen, wo die leben und was die machen.
Sie haben Angehörige der Toten der NSU-Morde eingeladen.
Ja, Fadime Şimşek, die Nichte von Enver Şimşek, dem ersten NSU-Opfer, und Hülya Özdag, die Konditorei-Betreiberin, die 2004 den Bombenanschlag in der Keupstraße in Köln erlebte. Die müssen ihre Geschichte erzählen. Viele sagen, ich würde reden wie ein Mitglied der Antifa, also politisch argumentieren, aber das ist es nicht. Es sollte ein menschlicher Reflex sein, Rassismus und Faschismus entgegenzutreten.
Es gibt einen politischen Aspekt.
Klar – aber es gibt noch was darüber. Es muss einem als Mensch klar sein, dass wir alle Rassismus und Faschismus bekämpfen müssen.
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