Humor mit Biß

■ Er war süchtig nach Theater: Eine neu erschienene Biographie erzählt das Leben des Sängers und Satirikers Otto Reutter

Sie sollen in Berlin durch mich bekannt werden!“ prophezeite Jacques Glück, Direktor des Berliner Apollo-Theaters, im Jahr 1896 einem jungen Komiker nach dessen umjubelter Premiere auf der Bühne an der Friedrichstraße. Der Varieté-Besitzer, der dem Neuling das Engagement zunächst nur zögernd auf Probe gegeben hatte, sollte recht behalten: Der bis dahin unbekannte 26jährige Künstler Otto Reutter begann im Apollo- Theater seinen Triumphzug durch ganz Deutschland und gilt heute noch als größter Humorist von der Jahrhundertwende bis in die legendären zwanziger Jahre in Berlin.

Sein Stammhaus wurde das Wintergarten-Varieté am Bahnhof Friedrichstraße, und auch im heutigen Wintergarten an der Potsdamer Straße werden Reutters Couplets regelmäßig interpretiert. Manches, was dem Publikum damals eine unerhört neue Pointe war, ist inzwischen zum Schlagwort geworden, wie die pragmatisch-poetische Phrase „Und geht auch alles kreuz und quer: Ick wundre mir über jar nüscht mehr.“

Das Sensationelle an Reutter aber sei sein völlig eigener Stil gewesen, wie Helga Bemmann in ihrer jetzt erschienenen Biographie über den Komiker feststellt. Während die traditionellen Bänkel- und Volkssänger Ende des vergangenen Jahrhunderts noch in figürlich stilisierten Singspielen ihre Possen getrieben hätten, habe er versucht, seinen selbstverfaßten Liedern einen „realen Bezug zum Leben“ zu geben.

Kritische Betrachtung der Tagespolitik und satirische Zuspitzung des Alltagsgeschehens – das war es, was die Leute im Theater von den Hockern riß: In seinen Programmen verarbeitete Reutter ungewöhnlich schlagfertig und aktuell, was sein Publikum tagsüber bewegt hatte. Auch das war neu: Er las die aktuellen Zeitungen, vertiefte sich in die Sitzungsprotokolle des Parlaments, um am Abend über das zu singen, was sich ereignet hatte. „Zum Wahllokale dräng' ich, und wißt ihr, was ich sah? / Ganz links, ganz ,unabhängig‘, stand eine Urne da“, dichtete er im Winter 1918/19 vor dem Hintergrund der Revolution und der Wahlen zur Nationalversammlung für Ulk, die Wochenbeilage des Berliner Tageblatts unter Chefredakteur Kurt Tucholsky.

Eine Auswahl von Texten im Anhang der Neuerscheinung zeigt: Gesellschaftliche Heuchelei hat Reutter ebenso angeprangert wie die Hetze und Härte des Großstadtlebens. Doch über eingängige Couplets wie „Mit der Uhr in der Hand“ und „In fünfzig Jahren ist alles vorbei“ hinaus, hätte die Textübersicht durch das eine oder andere weniger bekannte Reutter- Original angereichert werden können, während die Autorin mit ihren biographischen Kenntnissen über die Kindheit des Künstlers durchaus sparsamer hätte umgehen können: Da werden die Amateur-Schauspielversuche der Tante als Erklärung für die Bühnenkarriere des jungen Otto bemüht, und die Geschichte des altmärkischen Heimatortes Gardelegen bis ins 14. Jahrhundert zurückverfolgt.

Spannend liest sich hingegen die Beschreibung der Flucht des theatersüchtigen Händler-Sohnes aus der dörflichen Enge, der unerlaubte Abbruch seiner Kaufmannslehre, das jahrelange Tingeln mit Wanderbühnen als Statist, Arbeiter, Schreiber und Schauspieler. Diese Lehrjahre, meint Bemmann, ließen seine Bühnenpersönlichkeit heranreifen: „Er stand fast unbeweglich vor den Zuschauern. Er war leise, charakterisierte nur mit seinen großen Kulleraugen und mit weicher, biegsamer Stimme. Und – das war absolut neu im Fach – verließ sich ganz auf Text und Pointe. Er entthronte die Geste auf der Bühne, um endlich das Wort und den Gedanken durchzusetzen.“ Ulrike Heesch

Helga Bemmann: „Otto Reutter. 1870–1931“, Ullstein Taschenbuch, 312 Seiten, 16,90 DM