„Hotel Europa“ in Wien: Ein Palast und ein Gefängnis
Das alte Europa als Blaupause: Antú Romero Nunes inszeniert am Wiener Akademietheater „Hotel Europa oder Der Antichrist“.
In Wien, wo der Fettrand Europas mit am dicksten ist, hat man komfortable Aussichten auf die Balkanroute. Menschen mit Fluchterfahrung streben ins neue Europa. Das wehrt sich vielerorts noch mit nationalistischen Spasmen und rassistischen Würgereflexen gegen das Neusein.
In Österreich gehen die Zivilgesellschaft und sogar der Staat dagegen recht pragmatisch mit dem um, was in den Schlagzeilen Krise heißt. Chaos vorm Sozialamt ist anderswo. Der kritischen Intelligenz fehlt es schon fast, das Österreich-Bashing, mit dem man sich zu Haiders Zeiten so trefflich selbst geißeln konnte.
Dennoch fragt das Theater: Was tun? Der deutsche Regisseur Antú Romero Nunes lässt am Wiener Akademietheater die Flüchtlingschöre außen vor und vertieft sich in Bibliotheksmagazine. Theater ist relevant, politisch und zeitgenössisch, wo es versteht, seine dunklen Geister zu beschwören.
Romero Nunes und sein Dramaturg Florian Hirsch treffen dort unten in den Magazinen Joseph Roth, den hellsichtig-verzweifelten Weingeisterseher der deutschsprachigen und der österreichischen Literatur an ihrem Beginn. Er hat im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts den Untergang der alten Welt mit den allerfeinsten Strichen beschrieben und sich 1939 im Pariser Exil vor unstillbarem Gram darüber totgesoffen.
Mit unbehausten Figuren aus Roths „Hotel Savoy“ (1924) im Zettelkasten tauchen Regisseur und Dramaturg in einer Analogie zur Gegenwart wieder auf. Das Hotel ist Durchgangsstation entwurzelter Nachkriegsexistenzen und Schauplatz der elementaren Machtspiele von Geld- Pass- und Arbeitsbesitzern mit den Nichthabenden.
Im Exil verfasste Roth den Essay „Der Antichrist“ (1934), der die heraufdämmernde geschichtliche Katastrophe des Nationalsozialismus religiös deutet. Er ist „Material“ der Inszenierung ebenso wie die anrührende Geschichte vom Stationsvorsteher Fallmerayer, der im Weltkrieg durch die gesamt Ostfront hindurch der Spur der Seidenstrümpfe zur geliebten russischen Gräfin folgt. Hier und da noch ein Beleg, kurze Eigentexte und fertig ist „Hotel Europa“, ein „Palast und ein Gefängnis“, gerade so, als hätte Joseph Roth die Welt, wie wir sie gerade erblicken, schon immer so gekannt.
Liftboys purzeln aus den Gassen
Wie auf ein Fingerschnippen verwandelt sich das Wiener Akademietheater in eine Varietébühne, auf der es schon mal weiße Federn regnet oder echte Glocken läuten, die bei Roth zwischenzeitlich in Kanonen umgegossen waren. Zuerst aber purzeln vier Liftboys aus den Gassen, identisch livriert in blauviolettem Seidenglanz, als seien es Replikanten aus Wes Andersons „Grand Hotel Budapest“, der sich allerdings bei Stefan Zweig bedient hat.
Unter der Kappe tragen sie die Gummiglatze von Kaiser Franz Joseph und auf Plusterbacken seinen angeklebten Bart. Sie deklamieren laut und nuscheln in den selbigen hinein, wechseln auf eine kurze Geste, ein Klingelzeichen, ein Hoserunterlassen oder Rockdrüberziehen hin die Figuren, dass das geneigte Publikum mit dem Nachvollzug der Referenzen kaum nachkommt. Männer spielen Männer und Frauen. Frauen spielen Männer, die Frauen spielen. Ein bloßer Hüftschwung überwindet Zeit-, Ort- und Gendergrenzen.
Immer wieder Tote, denen die Lebenden die Wahrheit ihres Leben und Sterbens erst entreißen müssen. Wo Theater den Niedergang von Humanität wirklich begreift, muss es nach Formen des Posthumanen suchen. Ernst genug dafür ist nur Clownerie. Versatzstücke einer abgestorbenen Sprache purzeln aus den Mündern. Das Altkakanisch des 19. Jahrhunderts hört sich von nichtnativen SprecherInnen zunächst fremd an, was aber den Assemblagecharakter des Ganzen hervorkehrt.
Fiebrig und roh
Vier formbewusste SchauspielerInnen (Katharina Lorenz, Aenne Schwarz, Michael Klammer, Fabian Krüger) und ein kluger Regisseur schaffen eine fremde kleine Welt, der man für Momente gebannt zuschaut, wie Jahrmarktsbesucher es einst angesichts der Artistik und der Rohheit des vormodernen Treibens getan haben mögen.
Am Ende verfehlt der Abend dennoch knapp, was er kann. Das mag an der Versuchung des Materials liegen, den Bogen doch noch übers ganz große Ganze zu spannen. Die fiebrige Prophetie von Roths „Antichrist“ verleitet dazu, damit ohne den Umweg über die Form auf die Gegenwart loszugehen. Aber was ist die klügste Rede über die vierte Wand hinweg gegen den Erkenntnisgewinn einer kleinen, vertrackten Clownerie.
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