Homeless Veggie Dinner in Berlin: Der Riesen-Gemüseauflauf
Einmal im Monat kochen junge Leute beim Homeless Veggie Dinner für Bedürftige. Doch hier essen nicht nur Arme, sondern auch Künstler und Studierende.
Der Duft von Karottensuppe liegt in der Luft. Die Fensterscheiben sind beschlagen; der Raum ist prall gefüllt. Ständig werden neue Gäste willkommen geheißen und bedient. An einem der langen Tische sitzt ein älterer Mann mit sandfarbenem Jackett aus Kord, der sich als Arend vorstellt. Er habe 40 Jahre in den USA gelebt und bekomme Rente, erzählt er, könne aber von dem Geld nicht leben und arbeite deshalb zusätzlich als Zeitungsträger. Menschen wie Arend gibt es hier einige.
Es ist Samstagabend kurz nach 18 Uhr in einer eigentlich als Seniorenbegegnungsstätte genutzten Einrichtung in Kreuzberg nahe dem Schlesischen Tor. Einmal im Monat kommen hier junge BerlinerInnen zusammen, um Bedürftigen ein kostenloses vegetarisches Essen zu kochen.
Die Idee entstand vor fast fünf Jahren. Mittlerweile ist das Abendessen Anlaufpunkt vieler geworden: Nicht nur Obdachlose und Einkommensschwache kommen, sondern auch Studierende, Künstler und Reisende. Je nach den eigenen finanziellen Möglichkeiten erhält man das Essen kostenlos oder gegen eine kleine Spende. Diejenigen, die es sich leisten können, bezahlen freiwillig für diejenigen mit wenig Geld mit. Von den eingenommenen Spenden wird dann das nächste Abendessen finanziert.
Mehr als warmes Essen
Das nächste Homeless Veggie Dinner: 21. 2. 2015, 18-22 Uhr, Begegnungsstätte Falckensteinstraße 6, Kreuzberg.
Aktuelle Informationen über die Facebook-Gruppe "Homeless Veggie Dinner".
Die Stimmung ist ausgelassen; nahe der Eingangstür steht eine junge Frau mit einer Lichterkette um den Kopf und einer Gitarre in der Hand. Als sie anfängt zu singen, gesellen sich drei Männer zu ihr, stimmen ein und beginnen zu tanzen. Das komme häufiger vor, erzählt June-Marie Dennis, die seit mittlerweile vier Jahren das Homeless Veggie Dinner mitgestaltet und die positive Atmosphäre unter den Gästen schätzt. „Für viele ist dies ein Ereignis, auf das sie sich den ganzen Monat über freuen“, so die gebürtige US-Amerikanerin.
Dabei gehe es nicht nur um die warme Mahlzeit, sondern vielmehr um das soziale Miteinander, den Austausch, die Geselligkeit. „Vielen Menschen hier wird häufig kein Gehör geschenkt, daher sind der soziale Kontakt zu anderen Menschen und das Gefühl, wahrgenommen zu werden, besonders wichtig. Für sie ist das vegetarische Dinner eine Konstante im Leben geworden“, berichtet June-Marie.
Im Raum drängen sich die Gäste eng an Tischen und unterhalten sich. In den meisten Fällen allerdings sitzen Menschen mit dem scheinbar gleichen sozialen Hintergrund zusammen. Auf den ersten Blick sieht es nach einem Miteinander aus; wie intensiv der Kontakt aber tatsächlich ist, bleibt fraglich.
In der Küche, wo seit mittlerweile fünf Stunden eifrig Obst und Gemüse geschnitten, Kuchen gebacken und Saucen angerührt werden, hört man Lachen. Als das Projekt von Dario Adamic im März 2010 gegründet wurde, waren es gerade einmal drei HelferInnen. Nun sind es 30–35 Freiwillige, die sich bei der Planung und Umsetzung des vegetarischen Abendessens einbringen. Dabei ist so etwas wie ein internationales soziales Netzwerk entstanden, so June-Marie. Die Organisation wird weitestgehend über Facebook abgewickelt, manchmal werden Freunde, die ebenfalls helfen wollen, mitgebracht.
Gemüse statt Buletten
Der große Andrang reißt nicht ab. Selbst drei Stunden nach Eröffnung kommen hungrige Gäste herein und geben ihre Bestellung auf. In der Regel rechnen die OrganisatorInnen mit einem Zulauf zwischen 200 bis 250 Menschen.
Die Bewirtung der Gäste ist aufgrund der starken Nachfrage zu einer logistischen Herausforderung geworden. Gearbeitet werde in drei Schichten, erklärt June-Marie den Ablauf. Die erste Schicht sei für das Kochen, die zweite für den Service, die dritte für den Abwasch und das Aufräumen zuständig.
Auf das kostenlose Essen wird eine Woche im Voraus aufmerksam gemacht. Dazu nutzt man hauptsächlich Flyer und Plakate, die unter anderem in Suppenküchen, sozialen Einrichtungen und Obdachlosen-Treffpunkten verteilt und ausgehängt werden.
Große Teile der Lebensmittel, insbesondere Obst und Gemüse, werden von einem Großmarkt am Westhafen geholt, wo die Nahrungsmittel ansonsten weggeworfen werden würden. Der Rest, zum Beispiel Reis, Mehl oder Getränke, wird im Supermarkt gekauft, allerdings unter Einhaltung eines selbstgesetzten Budgets, welches 130 Euro nicht überschreitet.
Während Dinner-Gast Arend von seinem Leben in den USA berichtet, vergisst er das Essen beinahe. Die Frau, die ihm gegenübersitzt und sich bislang aus dem Gespräch herausgehalten hat, macht sich jedoch zügig über das ihr servierte Essen her. Später am Abend gibt es auch noch Nachschlag: Wer bis zum Ende bleibt, bekommt in Thermobehältern Reste – falls welche übrig bleiben.
Das Essen schmecke ihm, sagt Arend, während er an seiner Karotten-Linsen-Suppe löffelt, obwohl er sich auch über eine Bulette freuen würde. Das Servieren von rein vegetarischem oder veganem Essen war damals eine bewusste Entscheidung, berichtet June-Marie. Es sei gesund und eine gute Alternative zu der üblichen Kost in Suppenküchen. Außerdem könne dadurch die Skepsis gegenüber vegetarischem Essen abgebaut werden.
Anfangs fand das Dinner in der Admiralstraße, später in der Nansen- und dann in der Adalbertstraße statt. Doch durch die erhöhte Nachfrage mussten sich die OrganisatorInnen bald um neue Räumlichkeiten kümmern. Nun sind sie in einer Begegnungsstätte für Senioren zu Gast, die vom Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg zur Verfügung gestellt wird.
Mittlerweile gäbe es allerdings einen derart großen Bedarf an dem Dinner, dass die Küche nicht mehr ausreiche, um alle Gäste zu versorgen. Daher bedienen sich die ehrenamtlichen HelferInnen bereits eines Nebenraums, den sie als Putzküche umfunktioniert haben.
Staatliches Versagen?
Die Arbeit von June-Marie und Co ist zweifelsohne eine wichtige. Doch drängt sich die Frage auf, ob das, was diese jungen Menschen leisten, nicht eigentlich Aufgabe des Staates ist. Ist es nicht Aufgabe des Wohlfahrtsstaats, Menschen ein Dach über dem Kopf zu geben und sie mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen?
Als sich um 22 Uhr das Dinner seinem offiziellen Ende neigt, ist der Raum noch immer von den Stimmen der Gäste erfüllt. In der Küche wird langsam mit den Aufräumarbeiten begonnen.
Arend hat gerade sein Dessert verspeist. Am nächsten Tag muss er wieder um 1.30 Uhr aufstehen und Zeitungen austragen.
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