Holocaust-Gedenkstunde: „Ich habe den Teufel gesehen. Wir überschätzen ihn sehr“
Der Holocaust-Überlebende Roman Schwarzman erinnerte vor dem Bundestag an das Leiden durch die Shoah – und an das Leiden in seiner Heimatstadt Odessa.
Schwarzman setzte Putin mit Hitler nicht gleich, er berichtete nüchtern über Analogien, die schwer zu leugnen sind. Von der Angst, vom Widerstand und vom Leben. „Die Welt muss aufhören, Angst zu haben“, sagte er.
Aufgewachsen ist er in einer jüdischen Familie mit neun Kindern. Man habe nur zwei Betten besessen, die Wände waren aus Lehm geformt, berichtet er dem Bundestag. Nach Beginn des deutschen Angriffs im Juni 1941 sei die Familie aus ihrem Dorf Berschat in der Zentralukraine mit einem Pferdewagen geflüchtet. Doch der Krieg holte sie ein. Sie kehrte ins Dorf zurück, wo die SS alle Jüdinnen und Juden in ein Ghetto hinter Stacheldraht zwang. Da war Roman Schwarzman gerade einmal vier oder fünf Jahre alt.
88 Jahre zählt der rüstige Mann heute
Er erinnere sich, zusammen mit anderen Kindern das Wasser getrunken zu haben, mit dem die Nazis und ihre rumänischen Helfer ihr Kochfleisch gesäubert hatten, des kleinen bisschen Fett darin wegen. „Zweieinhalb Jahre mit ständigem Hunger“ erzählt er über die Zeit im Ghetto von Berschat. Roman überlebte. Tausende andere dort nicht, darunter ein Bruder, der erschossen wurde.
88 Jahre zählt der rüstige Mann heute. Ob das freilich sein richtiges Alter ist, weiß er nicht sicher. Denn nach dem Krieg waren Papiere verloren gegangen. Der Vater war gefallen. So wurde sein Lebensalter geschätzt. Verbürgt ist nur sein Geburtstag, der 7. November. Der Jahrestag der Oktoberrevolution.
In der Sowjetunion wurde ihm nahe gelegt, seinen jüdisch klingenden Nachnamen abzulegen. Synagogen wie Kirchen wurden geschlossen, seiner Tochter ein Medizinstudium verweigert, weil sie Jüdin ist. Schwarzmans Befreiung, das war neben dem Sieg der Roten Armee gegen Hitler 1944/45 die Unabhängigkeit der Ukraine 1991 und damit die Freiheit, Jude zu sein, ohne Angst haben zu müssen. Er hat die Erinnerung an die NS-Gräuel und ihre Opfer zu seiner Lebensaufgabe gemacht. In Odessa hat er in einem Wohnhaus ein kleines Holocaust-Museum initiiert. Sein Verband der Ghetto- und KZ-Überlebenden kümmert sich um die letzten Überlebenden der NS-Barberei. Er sei mit 88 ja noch jung, scherzt er im Vorfeld seiner Bundestagsrede. Doch das Ziel, ein Denkmal für die mehr als 25.000 in der Stadt ermordeten Jüdinnen und Juden zu errichten, hat Putins Krieg vorerst zunichtegemacht.
Dieser Krieg, so betonte Roman Schwarzman, dürfe für die Ukraine nicht verloren gehen. Er dankte den Deutschen für ihre Unterstützung, auch für die gelieferten Waffen, und bat um mehr Unterstützung. Die Barbarei müsse in ihre Schranken verwiesen werden, sagte er. „Ich war im Ghetto. Ich habe den Teufel gesehen. Wir überschätzen ihn sehr. Seine Kraft ist nicht größer als die, die wir ihm selbst beimessen.“
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