Hoffnungen und Ängste in der Wirtschaft: Die Macht der Erwartung
Jede Investition ist eine Wette auf die Zukunft. Und die ist nicht beherrschbar, so sehr die Menschen auch danach streben. Ein Essay.
D ie Wirtschaft gilt als eine Welt, in der die Zahlen regieren. Das ist falsch. Die Ökonomie wird vor allem durch Erwartungen gesteuert. Hoffnungen und Ängste sind so real wie die Realität – ja sie sind die Wirklichkeit. Die Gegenwart wird von einer imaginierten Zukunft geprägt.
Das Prinzip Hoffnung leitet jeden Unternehmer, der in ein Produkt investiert. Er kann nicht sicher wissen, ob seine Waren Kunden finden. Selbst akribische Marktstudien schützen nicht vor Flops, weswegen jede Investition eine Wette auf die Zukunft ist.
Auch Geld funktioniert nur, solange die Menschen hoffnungsfroh in die Zukunft blicken. Denn wer Geld akzeptiert, nimmt an, dass es seinen Wert behält. Aus Zeiten der Hyperinflation weiß man, was passiert, wenn dem Geld nicht mehr vertraut wird: Es hört auf zu zirkulieren, die Waren werden gehortet und nur noch gegen andere Waren getauscht. Die Wirtschaft stockt – bis es zu einer Geldreform kommt und das Prinzip Hoffnung wieder funktioniert.
Wo Hoffnung ist, sind Ängste, denn die Zukunft ist nicht beherrschbar. Daher haben die Menschen bereits in der Antike ein Instrument erfunden, das die Zukunft zur Gegenwart macht: das Derivat. Es wird vor allem bei Zinsen, Währungen, Rohstoffen und Agrarprodukten eingesetzt, weil dort die Kurse besonders stark schwanken. Das Prinzip ist einfach: Käufer und Verkäufer legen heute fest, welcher Preis künftig gelten soll, zum Beispiel in drei Monaten. Das Unkalkulierbare wird kalkulierbar.
Bauern können den Getreidepreis schon vor der Ernte festlegen, Fluggesellschaften sich einen festen Ölpreis sichern, Unternehmen ihre Kredite gegen Zinsrisiken schützen.
Aber Derivate sind tückisch: Mit diesen Wetten lässt sich auch reine Spekulation betreiben, ohne dass Grundgeschäfte wie eine Ernte oder Ölimporte existieren. Die Macht der Hoffnung und der Angst ist dann grenzenlos. Denn das Herdenverhalten der Anleger sorgt dafür, dass es sich lohnt, mit der Herde mitzutrampeln – auch wenn die Herde in die falsche Richtung läuft.
Dieser Wahnsinn ist beim Ölpreis zu besichtigen. An den „Fundamentaldaten“ hat sich wenig verändert, Angebot und Nachfrage sind weitgehend stabil. Trotzdem ist der Ölpreis in nur vier Monaten um 40 Prozent in die Tiefe gerauscht. Denn die Stimmung unter den Spekulanten hat sich gedreht: Mit Derivaten wetteten sie erst auf steigende Ölpreise – jetzt setzen sie auf sinkende Kurse.
Spur der Zerstörung
Obwohl nur mit Erwartungen gehandelt wird, hinterlassen die Spekulanten oft eine Spur der Zerstörung. Sie können Länder in den Abgrund treiben, wie etwa Italien jüngst erleben musste. Jahrzehntelang hat das Land seine Staatsschulden verlässlich bedient – trotzdem brach im Juli 2011 unter den Investoren die irrationale Panik aus, Italien könne in die Pleite rutschen.
Die Anleger zogen ihr Geld ab, sodass die Kreditzinsen für Italien in unbezahlbare Höhen schossen. Was die Investoren nur befürchtet hatten, wurde damit wahr: Italien steuerte in den Bankrott. Erwartungen erfüllten sich von selbst, und eine gefürchtete Zukunft wurde zur Gegenwart.
Die Eurozone wäre damals explodiert, wenn die Europäische Zentralbank nicht eingegriffen hätte – mit reiner Rhetorik. Am 26. Juli 2012 hielt EZB-Chef Mario Draghi eine Rede, an der nur ein einziger Satz wichtig war: Man werde tun, „was immer auch nötig ist, um den Euro zu retten“.
Psychologische Abwehrmaßnahme
Die Investoren verstanden sofort, was diese kurze Aussage meinte. Ab jetzt würde die Notenbank unbegrenzt Staatsanleihen aufkaufen, um die Zinsen für Italien zu senken. Die Panik verebbte sofort, sodass die EZB keine einzige Staatsanleihe erwerben musste. Psychologie hatte ausgereicht, um die Anleger zu beruhigen.
Dieses Spiel mit den Erwartungen wiederholt Draghi jetzt. Seit Monaten kündigt er an, dass er eine Billion Euro in die Banken pumpen will. Bisher ist von diesem Geld fast nichts zu sehen, aber das Ziel ist schon erreicht: Der Euro fiel, der Export der Krisenländer wird angekurbelt.
Neoliberale verstehen bis heute nicht, warum der Staat ständig in die Wirtschaft eingreift. Sie ignorieren, wie gefährlich es sein kann, dass sich Investoren immer von Hoffnungen und Ängsten leiten lassen. Sobald die Anleger in die Irre rennen, muss der Staat steuern – indem er gezielt neue Erwartungen schürt. Dem Prinzip Hoffnung entkommt keiner.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind