Hörspiel „Manhattan Transfer“: Stereotype als Stilmittel
Der Roman „Manhattan Transfer“ zeichnet ein Porträt des New York der Zwanzigerjahre. Die Hörspielfassung erscheint neu – samt rassistischer Begriffe.
Barack Obama hielt Anfang diesen Jahres ein Plädoyer für „Diversity“, also die Vielfalt und die diskriminierungsfreie Darstellung in Filmen. Es war ein Beitrag anlässlich der Debatte über die Oscarnominierungen, bei denen nur weiße Menschen bedacht worden waren. „Ich denke, wenn die Geschichte aller erzählt wird, führt das zu besserer Kunst“, sagte der US-Präsident.
Losgelöst von der Besetzungspolitik Hollywoods kann man diese Forderung auch auf die Literaturebene übertragen. Bereits vor gut 90 Jahren scheint sich in diesem Sinn der Roman „Manhattan Transfer“ von John Dos Passos das Prinzip zu eigen gemacht zu haben, vielleicht nicht jedermanns, aber doch die Geschichte von vielen unterschiedlichen Menschen zu erzählen. „Manhattan Transfer“ beginnt im ausklingenden 19. Jahrhundert und endet Mitte der 1920er Jahre.
Über diesen Zeitraum folgt der Roman zahlreichen Figuren unterschiedlichster Herkunft und sozialer Stellung, zoomt immer wieder an sie heran und bis in ihre Köpfe hinein. John Dos Passos zeichnete mit revolutionärer, cinematografischer Erzähltechnik ein lebendiges Bild von New York als Einwanderermetropole und schuf nach „Ulysses“ von James Joyce, einer Hommage an Dublin, den zweiten wichtigen Großstadtroman des zwanzigsten Jahrhunderts.
In einer konzertierten Aktion erscheinen nun im Mai die Neuübersetzung des Romans im Rowohlt Verlag, die Hörspielinszenierung des Südwestrundfunks (SWR) und Deutschlandfunks (DLF) und die entsprechende Hörbuch-CD bei Hörbuch Hamburg. Diese Neuentdeckung erfolgt lange nach der Erstübersetzung ins Deutsche, die Paul Baudisch 1927 vorgenommen hatte.
Hörspiel als eigenes Werk
Doch eine Inszenierung von „Manhattan Transfer“ anhand der Baudisch-Übersetzung wäre nicht infrage gekommen, wie sich Leonhard Koppelmann, Hermann Kretzschmar und Manfred Hess einhellig äußern. Das für das Hörspiel verantwortliche Trio hegte zwar schon länger den Gedanken, das ungelesene, literaturhistorisch bedeutsame Werk einem breiten Radiopublikum näher zu bringen, schritt allerdings erst zur Tat, als es gelang, gemeinsam mit dem Rowohlt Verlag die Erbengemeinschaft für eine Neuübersetzung zu begeistern. Diese liegt nun von Dirk van Gunsteren vor.
Die Radiofassung ist allerdings keine Eins-zu-eins-Umsetzung des Romans, sondern als eigenständige Arbeit zu betrachten. „Wir wollten keine Lesung machen“, sagt Manfred Hess vom SWR, Dramaturg des Stücks und gemeinsam mit seiner Kollegin Sabine Küchler vom DLF verantwortlicher Redakteur. So ist ein rund sechsstündiges Hörspiel entstanden, das die Dreiteilung des Romans beibehält. Die Auslassung wird hier gekonnt als Stilmittel eingesetzt. Aber „es tut einem natürlich weh um jede Szene“, sagt Leonhard Koppelmann, Bearbeiter und Regisseur, zum Kürzungsprozess. Zum konkreten Vorgehen erläutert Koppelmann, dass er aus der zersplitterten Erzählweise des Romans Storylines für einzelne Figuren konzipiert hat.
obama über vielfalt im film
Ein wichtiger Erzählstrang ist Ellen Thatcher gewidmet, die zu Beginn der Geschichte das Licht der Welt erblickt und der man bis zum Schluss immer wieder begegnet. Ihre Rolle wird im Hörspiel von Maren Eggert gesprochen, die sich – so beschreibt sie es – über Ellens Schicksalsschläge den unterschiedlichen Altersstadien dieser Figur annähert und so Zugang zur Darstellung der Schauspielerin und späteren Journalistin findet. Eggert ist neben Axel Prahl, Sophie Rois und Ulrich Noethen eine von zahlreichen prominenten SchauspielerInnen, die den Figuren ihre Stimmen leihen. Mit ihnen erarbeitete Leonhard Koppelmann in den Räumen von Deutschlandradio Kultur am Berliner Hans-Rosenthal-Platz die Szenen – bis zur Sendereife, denn von im Schnitt montierten Dialogen hält er nicht viel. Die Erzähleraufnahmen wurden in den DLF-Studios in Köln eingesprochen, Mischung und Mastering erfolgten in Baden-Baden beim SWR.
Die Aufnahmen für die in diesem Hörspiel außergewöhnlich starke Musikebene entstanden in Frankfurt beim Hessischen Rundfunk (HR). Für die Komposition ist der hier ebenfalls als Kobearbeiter tätige Hermann Kretzschmar verantwortlich. Die gut hundert kurzen Stücke hat er gemeinsam mit Kollegen des Ensemble Modern sowie der HR-Bigband interpretiert, um auch in der Umsetzung der Komposition das konzeptuelle „Changieren zwischen Neuer Musik und Jazz“ zu ermöglichen. Kretzschmar hebt besonders hervor, dass „Manhattan Transfer“ ein wichtiger Musikroman ist. Und tatsächlich wird dort auf jeder zweiten Seite ein Schlager, ein Musical oder eine Oper erwähnt. Kretzschmar verweist unter anderem auf „Shuffle Along“, das erste von Schwarzen geschriebene und komponierte Erfolgsmusical in den USA, in dem unter anderem Josephine Baker auftrat.
„Manhattan Transfer“: Teil 1 „Am Fährboot“, SWR2, So. 22. 5., 18.20 Uhr, es folgen zwei weitere Teile
Aber: Ganz so progressiv und einer Multiperspektivität verpflichtet, die sich an Diversity orientiert, ist John Dos Passos’ Roman abgesehen von der Erzählweise, vielleicht doch nicht. Problematisch ist besonders die Darstellung von Schwarzen, Juden oder auch anderen Minderheiten wie den irischen Einwanderern. Zwar hat man beim Lesen manchmal das Gefühl, Dos Passos will lediglich den schon damals existierenden gesellschaftlichen Antisemitismus und Rassismus widerspiegeln.
Dafür pflegt er jedoch selbst in den relativ neutralen Erzählpassagen eine zu große Vorliebe für rassekundlich geprägte Figurenbeschreibungen, wobei Schädelform und Physiognomie auch immer einen Schluss auf Charakter und Moral der beschriebenen Person zulassen. Sehr oft trifft man auf die klischeehafte jüdische Hakennase, deren Träger meist die stereotypen Rollen kleiner schlitzohriger Gauner oder einflussreicher gieriger Geldsäcke zugewiesen bekommen. Auch findet man in „Manhattan Transfer“ sexbesessene Schwarze, hysterische Frauen und theatralisch auftretende Schwule.
Belastete Wörter
Dass Wörter wie „Judenmädel“ und „Negerblut“ im Deutschen noch stärker als in anderen Sprachen vorbelastet sind, hätte Dirk van Gunsteren bei seiner Übersetzung berücksichtigen können. So aber stellt sich beim Lesen seiner Neuübersetzung öfter ein mulmiges Gefühl ein und der Kontext deutscher Geschichte überlagert die Lektüre dieser Großstadterzählung. Auch sonst hat van Gunsteren nicht auf antiquierte Sprache verzichtet und benutzt Worte wie „Scharteke“ (Schimpfwort für eine alte Frau) oder „Dummerjahn“ (neckische Beleidigung). Bei der Hörspielbearbeitung wurde zwar einiges an van Gunsterens Antiquitäten entsorgt, jedoch tauchen auch hier historisch stark belastete Worte auf. Warum?
„Eine Literaturadaption ist kein pädagogisches Korrektiv des Autors oder – wie in diesem Falle – des Übersetzers“, sagt Redakteur Manfred Hess. Dem Original aus dem Jahr 1925 zu folgen sei oberste Verpflichtung. „Wir zensieren nicht und gehen vom selbstbewussten und kritischen Rezipienten aus, der diese Begriffe historisch einzuordnen in der Lage ist. Er braucht keine Bevormundung.“ Sprache sei Spiegel der Wirklichkeit, sagt Hess, und diese Übersetzung versuche meisterhaft, die Wirklichkeit zwischen 1900 und 1924 in New York in dem Text von 1925 für das deutsche Publikum zu zeigen.
Dass die New Yorker Wirklichkeit tatsächlich stark eingefangen wird, schrieb 1989 auch schon der spätere Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa in seinem Essay „Hauptstadt der Masse und der Zerstörung – Manhattan Transfer“: „Mögen die einzelnen Personen in ‚Manhattan Transfer‘ auch zu blass und flüchtig sein, um in der Erinnerung fortzudauern […], so wird doch die große kollektive Gestalt, die Stadt New York […] in einem wunderbaren Porträt festgehalten.“ Und ein dicht erzähltes, beeindruckendes Porträt der Metropole ist auch das Hörspiel.
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