Höchste Ehren für Anke Feuchtenberger: Die Schneckenkönigin
Doppelter Boden inklusive: Anke Feuchtenbergers Graphic Novel „Genossin Kuckuck“ ist für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.
Der Übergang vom Realistischen ins Fantastische geschieht fließend. Gerade wurde Kerstin noch von ihren Mitschülerinnen festgehalten und gezwungen, ihnen ihr „Westkaugummi“ zu geben und zu sagen, woher sie es hat. Doch sie hält dicht. Die „kleine Frau“ mit den dicken Zöpfen geht daraufhin an einen stillen Waldsee und lockt mit dem Kuckucksruf die „große Frau“ daraus hervor. Ein riesiger Frauenkopf erscheint ihr und streckt Kerstin plötzlich ihre drei Brüste entgegen …
Es ist eine magische Szene in Anke Feuchtenbergers Graphic Novel „Genossin Kuckuck“. Das nächtliche Erlebnis zeichnet sie mit feinen Schraffuren aus Kohle und Bleistift, Kerstins Kopf scheint in einem Strudel aus schwarzen Linien zu ertrinken. Ist das Mädchen einer obskuren Göttin begegnet oder handelt es sich bloß um ein kindliches Fantasiegespinst? Die Autorin und Zeichnerin stellt die Sequenz an den Beginn ihres Buches.
Mit „Genossin Kuckuck“ wurde erstmals ein Comic in der Kategorie „Belletristik“ für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Anke Feuchtenberger bezeichnet das Werk, an dem sie etwa 14 Jahre arbeitete, als „Bilderzählung“. Eine lineare Handlung gibt es nicht, stattdessen werden Episoden aus dem fiktiven Dorf Pritschitanow in Vorpommern erzählt, die um die zentrale Figur Kerstin – Alter Ego der Autorin – und ihre beste Freundin Effi kreisen. Es beginnt im Kindesalter in den 1960er Jahren und springt hin zu Episoden in der Pubertät.
Schroffe Oma
Sozialistische Erziehung in der DDR spielt in Kerstins Wahrnehmung eine prägende Rolle. Ihre Eltern stellt sie sich damals als „Helden im Dienste des Sozialismus“ vor, in Form grob gehauener Statuen, denn sie kennt sie nicht. Kerstin wächst bei der Großmutter auf, einer schroffen Russischlehrerin, zu der sie trotzdem Zärtlichkeit empfindet. Auch wenn sie ihren großen, „schönen“ Bruder Jochen hat, wird die abwesende Mutter schmerzlich vermisst.
Anke Feuchtenberger (Feuchtenbergerowa): „Genossin Kuckuck“. Reprodukt Verlag, Berlin 2023, 448 Seiten, 44 Euro
Kerstin flüchtet in die Fantasie, begegnet der „Schneckenkönigin Vontjanze“. Grenzen zwischen Mensch, Tier und Pflanze verwischen. Menschen tragen Schweinsmasken oder werden zu Hund-Mensch-Hybriden. Sozialistische Phrasen, Volksfeste und Verbrüderungsrituale mit Besatzern werden als absurde Rituale dargestellt: „Niemand hört zu.“ Kerstin kehrt am Ende zurück ins Dorf, um ein Fotoalbum abzuholen, und landet in einem „Heim“ voller verdrehter Erinnerungen.
Anke Feuchtenberger greift all diese Motive und Geschehnisse bis hin zu Verwerfungen der Nachwendezeit (in Form von fragwürdigen Privatisierungen) auf und verfremdet sie derart, dass es für Leser:innen nicht immer einfach ist, die Vorgänge zu entschlüsseln. Vieles wurzelt in Erinnerungen der Autorin an ihre Kindheit in der ostdeutschen Provinz und den oft lieblosen Umgang Erwachsener mit Kindern.
Wuchernde Naturmetaphern
Die wuchernde Naturmetaphorik und manch surrealer Einfall spiegeln Feuchtenbergers in ihrem Werk gewachsene Ideenwelt, in der sie ihren Alltag fantastisch verarbeitet und verwandelt. Meist platziert sie zwei Panels untereinander, bricht diese Struktur aber auf, wenn sie mit ganz- oder doppelseitigen Panels narrative Höhepunkte markiert. Zwischen manche Kapitel setzt sie abgeschlossene Prosatexte.
Sprechblasen benutzt sie sparsam, über oder zwischen die Bilder platziert sie hingegen häufig den Erzähltext, dessen filigranes Lettering den Kunstcharakter der Erzählung unterstreicht. Die Sprache setzt noch eins drauf, poetisiert und mystifiziert, sodass ein an Märchen erinnernder Erzählduktus entsteht. Jedoch ein gruseliger, der das kindliche Erleben um einen doppelten Boden erweitert. Er deutet die eine oder andere Ungeheuerlichkeit an – körperliche Gewalt, Rohheit, bis hin zu sexuellen Übergriffen, traumatisierenden Erfahrungen.
Komplexe Autofiktion
Anke Feuchtenberger hat schon in früheren Werken, wie „Die Spaziergängerin“ (2012), mit den Mitteln des Comics hochkomplexe Erzählungen geschaffen. „Genossin Kuckuck“ ist vielleicht ihr Opus magnum, in dem sie in kompromissloser Weise auf ihr Leben zurückblickt. Ergebnis ist eine autofiktionale Erzählung eines „vergangenen Ostens“ voller surrealer, zuweilen drastischer Einfälle, die zugleich abstoßen wie faszinieren können.
Als langjährige Professorin für „Zeichnen und Grafische Erzählung“ an der Hochschule HAW in Hamburg fördert sie seit Jahrzehnten Talente der sequenziellen Kunst. Die Nominierung von „Genossin Kuckuck“ ist ein deutliches Zeichen des Literaturbetriebs, dass er sich zunehmend für die Kunstform Comic interessiert, die an der Schnittstelle zwischen Kunst und Literatur verortet ist – wie auch für die sich immer stärker profilierende deutsche Comicszene.
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