Comics mit konsequent weiblichem Blick: Die Schönheit der vielen Gestalten

Geschichten über Sex, Gender und Identität: Erstmals gibt es alle Geschichten um Katrin de Vries' und Anke Feuchtenbergers Hure H in einem Band.

Eine verhüllte Figur hält in einem dunklen Raum einem Mann eine Tasche entgegen

Fantastische hermetische Bilder: Die Hure und „der große moderne Mann“ (Ausschnitt) Foto: Reprodukt

Fans wissen es schon lange: Wer die Hure H nicht kennt, verpasst eine der wichtigsten Comic-Protagonistinnen des späten 20. Jahrhunderts. Klingt hochgestochen? Ist es auch, aber das zu Recht! Zu Recht auch, dass die Kunstfigur von Autorin Katrin de Vries und Zeichnerin Anke Feuchtenberger jetzt mit einer Gesamtausgabe beim Reprodukt Verlag geehrt wird.

Aber noch mal auf Anfang für die Uneingeweihten – wer ist die Hure H? Man könnte vielleicht sagen: Die Hure H ist ein Wesen, das seinen Le­se­r:in­nen vielgestaltig entgegentritt. Mal fast nackt, mager und mit Hasenohrmütze, mal mit Pagenkopf, Kleid und Bauch. Aber „Die Hure H“ ist auch Titel einer Trilogie. Neun Geschichten sind es, die über den Zeitraum von 1993 bis 2004 entstanden und in drei Einzelbänden erschienen sind. Erstmals wurden sie nun gesammelt veröffentlicht.

Auf knapp 250 Seiten folgt man der Figur über neun Episoden hinweg in eine Welt, die Ina Hartwig in der Frankfurter Rundschau mal als „gezeichnete Theoreme“ beschrieb, „in eine geradezu traumlogische Form gegossen“. Knapp betitelt kommen die Episoden daher. „Die Wäsche“ heißt eine, „Das Fest“ eine andere.

Erzählt wird aus einer weiblichen Perspektive. Anders als man vielleicht denken könnte, handelt es sich bei „Die Hure H“ nicht um Berichte aus dem Leben einer Sexarbeiterin.

Schmerzenslaute und Blutgeruch

Welchen Beruf die Hure H ausübt, bleibt marginal, im inhaltlichen Zentrum der Stories steht das Scheitern an vermeintlichen Schlüsselmomenten heteronormativer Lebensentwürfe: Mal probiert die Hure H ein Brautkleid an, aber „fühlt nichts“, mal nähert sie sich dem weinenden „Haus der Geburten“, aber Schmerzenslaute und Blutgeruch machen sie fliehen. Und überhaupt hat sie ihre einzige positive sexuelle Erfahrung mit einer Frau, was sie wiederum „verwirrt“ zurücklässt.

Dass es manchmal schwer fällt, die Hure H von Geschichte zu Geschichte äußerlich wiederzuerkennen, liegt allerdings nicht am langen Entstehungszeitraum des Zyklus, sondern ist Absicht. Ob man die Vielgestaltigkeit der Figur nun als Vignette diverser weiblicher Biografien oder als Infragestellung identitärer Kategorien verstehen soll, bleibt offen.

Anke Feuchtenberger, Katrin de Vries: „Die Hure H – Gesamtausgabe“, Reprodukt, 248 S., Schwarzweiß mit einer Schmuckfarbe, 39 Euro

Dominiert werden die Geschichten von der mal mehr, mal weniger direkten Beschreibung eines dissoziativen Verhältnisses von Körper und Gefühl, von gesellschaftlicher Erwartung und Realität. Auch formal wird dieses Verhältnis spürbar. Paradoxerweise verhalten Text und Bild sich dabei derart symbiotisch, dass eine interessante Reibung hinsichtlich der Distanz zwischen Hure H und den Umwelten entsteht, durch die sie sich bewegt.

Im besten Sinne umständlich ist die Sprache von Katrin de Vries, die Konventionelles seltsam gestelzt von einer unklaren Spre­che­r:in­nen­po­si­ti­on aus formuliert. Da fallen Sätze wie: „Einige Frauen und Männer bewegen sich nach den Regeln des Tanzes.“ Oder es gibt solche, die fast schon neurotisch wirken und zugleich von einem gekonnten Einsatz sprachlicher Wiederholung zeugen: „Ich suche jemanden, ich muss ihn ein wenig suchen gehen.“ Überhaupt ist die Hure H ziemlich oft auf der Suche beziehungsweise auf dem Weg zu Ereignissen, die mitunter ziemlich traumatisch sind.

Projekt mit stabiler Fanbase

Unterwegs ist sie dabei meistens alleine, wenn ihr auch hier und da groteske Gestalten und verzerrte Alter Egos begegnen, von denen Feuchtenbergers phantastische wie hermetische Bilder erzählen. Auf jeder Seite zwei Panels in Grauschattierungen, die mal ins Sepiafarbene kippen, mal ins Grünliche und in ihren monochromen Ausformulierungen eigene Perspektiven und Zeitlichkeiten hervorbringen. Darin kann man sich als Le­se­r:in leicht verlieren und fremdelt in dieser Erfahrung vielleicht ein bisschen weniger mit der stets etwas entrückt wirkenden Protagonistin.

Aber Vorsicht, wem das jetzt zu kompliziert klingt! Denn dafür, dass wir es bei der Hure H mit einem Projekt zu tun haben, das in seiner schlauen Vertracktheit jedes „bemerkenswert“ schnöde klingen lässt, spricht neben der stabilen Fanbase, die mit Erscheinen der Gesamtausgabe hoffentlich noch mehr verdienten Zulauf findet, auch Feuchtenbergers Renommee.

Während sie bei Entstehung der frühen Hure-H-Geschichten noch recht am Anfang ihrer Karriere stand, ist sie mittlerweile Künstlerin von internationaler Bekanntheit und in verschiedensten Kontexten tätig.

2020 gestaltete sie beispielsweise den riesigen graphischen Altar „Tracht und Bleiche“ für das LWL-Museum Münster. Außerdem gründete und leitete sie einen eigenen Verlag, den Mami Verlag, in dem auch „Die Hure H“ zeitweise erschien. Seit 1997 ist Feuchtenberger an der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) tätig und wird dort als Dozentin ebenso geschätzt wie als Künstlerin. Aus ihre Klassen gehen neue Generationen von Comic-Zeichner:innen hervor, von denen einige mittlerweile selbst bekannt sind, wie Birgit Weyhe oder Marijpol.

Kein Wunder also, dass Feuchtenberger – Jahrgang 1963 und eigentlich ausgebildete Grafikdesignerin – vor zwei Jahren mit dem Max-und-Moritz-Preis für ihr Lebenswerk ausgezeichnet wurde, der wichtigsten Auszeichnung für graphische Literatur und Comic-Kunst im deutschsprachigen Raum.

Genuin feministisch

In der Laudatio heißt es über Feuchtenbergers Anfänge im Berlin der 1980er-Jahre: „Und Frauen, immer mehr Frauen drangen in eine Szene, in der bislang eher die Jünglingsfantasien dominiert hatten. … Und mittendrin, oft auch vorneweg, stand Anke Feuchtenberger mit Werken wie ‚Mutterkuchen‘, ‚Somnambule‘ ‚Das Haus‘, ‚Der Palast‘, ‚Die Hure H‘ …“

Insofern ist „Die Hure H“ nicht nur thematisch ein genuin feministisches Projekt, sondern ist auch in puncto feministischer Comic-Geschichte wegweisend.

Der Band liest sich mit großem Gewinn und lässt nicht nur das Können der Autorinnen glänzen, sondern auch die Hure H als Anti-Allegorie hervortreten. Also als eine, die für vermeintlich „typisch weibliche“ Erfahrungen steht und diese zugleich auseinandernimmt. Als eine, die sich den ersten Buchstaben eines Begriffs als Namen angeeignet hat, der Frauen, deren Lebensweise nicht der Norm entsprach, immer schon denunzieren sollte. Bleibt nur noch die Frage, ob es irgendwann noch einmal weitergeht mit der Hure H. Fast wäre man versucht, sich ein Sequel zu wünschen.

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