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Hochstaplerin Anni Sanneck„Vernichtung durch Arbeit“

Das Leben einer der schillerndsten Kriminellen der 20er Jahre endete tragisch – sie wurde Opfer des NS-Massenmordes an Strafgefangenen.

Lächelt dem Verteidiger zu: Anni Sanneck vor Gericht Foto: Leo Rosenthal/Landesarchiv Berlin, F Rep. 290-02-06 Nr. 55

„Ihr verdammte Bande, wollt ihr nicht strammstehen, wenn ich hier in diesen Dreckstall komme?!“, tobt die Frau im Gerichtssaal. In ihrer Wortwahl ist sie, nun ja, nicht gerade zimperlich. Doch dieser fulminante Auftritt der Anni Sanneck ist charakteristisch für die Dame, die eigentlich gar keine ist.

Anni Sanneck ist in den 1920er Jahren die „gefährlichste Hochstaplerin Deutschlands“, ein zweifelhafter Ehrentitel, der ihr von einer der zahlreichen Berliner Tageszeitungen verliehen wurde. Alle kennen sie in der Reichshauptstadt, und wenn Anni mal wieder äußerst selbstbewusst vor einem der ratlosen Richter steht, ist der Andrang dementsprechend groß. Polizei und Justizbeamte versuchen dann verzweifelt, die neugierige Menschenmenge in Schach zu halten, aber meistens muss das Gebäude aus Sicherheitsgründen abgesperrt werden.

Und Sanneck gibt ihrem „Publikum“, was es will: Randale, Tumulte, Geschrei, aber auch Zudringlichkeiten. Da kann es schon mal vorkommen, dass sie den Richter umarmt oder dem Verteidiger Küsse zuwirft. Grundsätzlich ist sie anscheinend sehr vertraut mit dem Justizpersonal, alle werden zuverlässig mit Koseworten bedacht und hartnäckig geduzt.

„Komm mal her, Erich“ – gemeint ist der ehrwürdige Dr. Dr. Erich Frey, einer ihrer zahlreichen Verteidiger während ihrer Laufbahn als Hochstaplerin – „Du bist doch der Beste“. Ein Grölen, dann ein Lachen, das Publikum ist begeistert.

Im Ruhm baden

Anni Sanneck sonnt sich in dem vermeintlichen Glanz der Aufmerksamkeit, der Bewunderung. Das ist ihre ganz eigene Wahrnehmung, die ihr keiner nehmen kann und die sie immer und immer wieder auch zu größeren Straftaten animiert.

Die Gerichtsauftritte in Berlin sind der Lohn ihrer „Arbeit“. Es zählt nicht nur das durch Betrügereien als falsche Gräfin ergaunerte Geld, sondern auch der vermeintliche Ruhm. Doch mit der Zeit wird sie sich darin völlig verlieren. Aber auch in einer psychischen Krankheit, die vermutlich ihrer Drogensucht geschuldet war.

Ihre Karriere als Hochstaplerin beginnt früh. 1889 im ostpreußischen Czychen geboren, ziehen ihre Eltern mit den Kindern um die Jahrhundertwende in die Nähe der Reichshauptstadt, wo der Vater August Sanneck als Straßenbahnführer arbeitet. Die Familie lebt in Lichtenberg, dort heiraten auch Annis Geschwister, sie werden ein geordnetes Leben führen.

Nur Anni schlägt etwas aus der Art, treibt sich früh herum und wird schließlich ungewollt schwanger. Der entsetzte Vater jagt sie mitsamt ihrem Kind aus dem Haus. Das ist der Anfang vom Ende: Betrügereien, Urkundenfälschung, Diebstahl, eine ganze Palette von Straftaten, die sie zumeist in Begleitung eines Komplizen, der meistens auch ihr Liebhaber ist, begeht.

Auf der Flucht

Zumeist ist sie als falsche Gräfin in Berlin unterwegs, feudal gekleidet, wortgewandt, mit sicherem Auftreten versteht sie ihre Opfer zu blenden. Oft entzieht sie sich nach der Enttarnung ihrer Strafe durch Flucht. So ist sie zum Beispiel am 12. März 1912, als die Hauptverhandlung gegen sie vor dem Landgericht I in Berlin stattfinden soll, nicht auffindbar.

Doch zumeist wird sie irgendwann wieder dem Untersuchungsgefängnis zugeführt, so auch am 16. Dezember 1912, als sie widerwillig das Urteil entgegennehmen muss. Und das lautet für die in den Augen der Ärzte „geistig minderwertige“ Kriminelle, die mittlerweile starke Morphinistin ist: zweieinhalb Jahre Gefängnis.

Die nächsten zwei Jahrzehnte werden eine beständige Abfolge von Straftaten, Verhaftungen, Gerichtsauftritten, Untersuchungen durch Gerichtspsychologen in der „Irrenanstalt“, Verurteilungen, aber auch wieder Freisprüche, woraufhin Anni ihr altes kriminelles Leben sofort wieder aufnimmt.

Erschwerend hinzu kommt der ominöse Paragraf 51 des Reichsstrafgesetzbuches, der über die Zurechnungsfähigkeit der Angeklagten entschied: „Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Thäter zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande von Bewusstlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistesthätigkeit befand, durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.“

Der Paragraf barg das Potential, dass gewiefte Straftäter die Ärzte täuschen konnten, provozierte unter Umständen aber auch Streitigkeiten unter den Ärzten, die unterschiedlicher Meinung waren und so der Gerichtsprozess unnötig in die Länge gezogen wurde. Und während dieser Zeit saßen die Delinquenten im Untersuchungsgefängnis, wo mitunter dann eine tatsächlich vorhandene geistige Erkrankung völlig zum Ausbruch kommen konnte.

Mittel der Justiz versagen

In den 1920er Jahren wird Anni Sanneck immer rastloser, längst sind ihre Handlungen zwanghaft geworden. Sie wechselt nun öfter ihren Aufenthaltsort, aber auch ihre reichen Liebhaber, die ihren Sinn für Luxus fördern. Sie heiratet und trennt sich mehrmals, alles wird wie immer zuverlässig durch Gefängnis- oder Anstaltsaufenthalte durchbrochen. Ein ewiger Kreislauf, den Anni irgendwann nicht mehr durchbrechen kann.

Auch die Berliner Behörden sind völlig ratlos. „Die Mittel der Justiz versagen vor dieser Person, deren ungebrochene Vitalität die Zwangsjacken und die Gefängnistore bricht“, heißt es in einem zeitgenössischen Artikel über die ungewohnt aktive Kriminelle, und das trifft genau den Kern des Problems, „und die doch immer wieder freiwillig in die Anklagebank zurückkehrt, als wehe da die Luft, die sie zum Leben braucht“.

Doch auch eine vitale und äußerst mobile Anni Sanneck, die auch in anderen Landesteilen wie zum Beispiel dem Rheinland aktiv war, wird einmal älter. Die Energie verpufft, und was bleibt dann, wenn sich eine psychische Erkrankung längst manifestiert hat?

Zunächst wird sie 1930 mal wieder zu zwei Jahren Haft verurteilt. Dann ist es wieder das gleiche Spiel. Ihr Verteidiger, Rechtsanwalt Dr. Eisenstaedt, holt neue psychologische Gutachten ein, woraufhin Sannecks Haftentlassung wegen Haftunfähigkeit angeordnet wird.

Das Spiel ist aus

Fünf Jahre später schließlich – als falsche Gräfin hat sie mehrere Personen um mehrere tausend Reichsmark erleichtert –, wird Sanneck mal wieder festgenommen. Und nun ist das Spiel aus! Sechs Jahre Haft beträgt ihre Strafe, die sie im berüchtigten Zuchthaus Waldheim in der Nähe von Dresden absitzen soll.

Dort erweist sie sich als äußerst renitent, aufsässig, eine Quertreiberin, die nicht merkt, dass sie dadurch ihre Haftbedingungen nur verschlimmert. Zudem nagt ein Rechtsstreit mit ihrem ehemaligen Berliner Geliebten namens Ernst Pichler an ihr.

Die ganze Welt habe sich gegen sie verschworen, so ihre Wahrnehmung. Sie hadert nur noch mit ihrem Schicksal, will Rache an Pichler nehmen, und trauen könne man sowieso niemandem, schreibt sie im Gefängnis – eine sehr umfangreiche Akte aus dem Zuchthaus zeugt von ihrem mittlerweile konfusen Geisteszustand.

Tragisches Schicksal

Anni Sanneck hat ihre Strafe nicht vollständig abgesessen, ist nie wieder in Freiheit gelangt. Ein Abkommen zwischen Reichsjustizminister Otto Thierack und Reichsführer SS Heinrich Himmler vom 18. September 1942 besiegelte auch das Schicksal der Aufsässigen, der sogenannten Asozialen: „Asoziale Elemente aus dem Strafvollzug, Juden, Zigeuner, Russen, Ukrainer [sollen] an den Reichsführer SS zur Vernichtung durch Arbeit ausgeliefert werden.“

Und so reiste vor über 80 Jahren eine Gutachterkommission durch das Land, eine von der Justiz legitimierte todbringende Delegation, die in Absprache mit der jeweiligen Anstaltsleitung die Selektion für die Gaskammern durchführte.

Eine Studie, die sich mit diesem Massenmord an Strafgefangenen befasste, kam zu dem Ergebnis, das im Jahr 1942 insgesamt 17.307 Gefangene in die Konzentrationslager überstellt wurden, so auch Anni Sanneck. Am 22. Oktober 1942 wurde sie von der Polizei in Gewahrsam genommen und am 8. Januar 1943 nach ­Auschwitz transportiert. Zwei Monate später wurde Anni Sanneck dort am 11. März 1943 ermordet.

Leo Rosenthal, der wackere Fotograf, der damals verbotenerweise in Berliner Gerichtssälen fotografierte, hat auch Anni Sanneck einst auf einem seiner Bilder verewigt. Das ist von ihr geblieben: ein faszinierendes Foto von einer Frau mit modischem Kurzhaarschnitt, die eigentlich ganz sympathisch aussieht. Der Verteidiger Max Alsberg hatte es leicht mit ihr, sie war ihm offenbar wohl gesonnen. Und Anni Sanneck lächelt.

Mehr True-Crime-Geschichten von Bettina Müller finden sich in ihrem Buch „Dandys, Diebe, Delinquenten (Verbrecher in Berlin 1890–1933)“, erschienen bei Elsengold

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