Historisierung der Hamburger Schule: Crossmediales Debattendelirium
Deutsch gesungen, unabhängig veröffentlicht: Der Geschichte der Hamburger Schule widmen sich nun ein Buch, eine Compilation und eine TV-Dokumentation.
Für ein Pop-Phänomen ist so was doch eine zweischneidige Sache: In gleich drei medialen Aggregatzuständen wird dieser Tage vorläufig fixiert, was das war, diese „Hamburger Schule“ genannte Musikszene. Ein Buch und eine begleitende Compilation werden heute veröffentlicht. Dazu ist im Hamburger Club „Knust“ eine Veranstaltung anberaumt, bei der dann auch eine zweiteilige TV-Doku vorgeführt wird, in Auszügen; diese 60 Minuten von NDR-Autorin Natascha Geier sind seit einigen Tagen bereits online zu sehen.
Was hohe Wellen schlug auf den Kanälen einiger Beteiligter in den sozialen Medien und bei jungen Beobachtern erstaunt zur Kenntnis genommen wurde: Wer kommt zu Wort, wer nicht – und wer durfte vor die Kamera, obwohl er*sie doch nun nirgends dabei gewesen war? Erst nochmal rasch zurück ins Knust: Dort spielen heute abend etwa Bernadette La Hengst, Knarf Rellöm und Nixe.
Also Leute, die definitiv dabei waren, wenn nicht bei der Hamburger Schule, dann schon zuvor. Erst aber wird diskutiert: Über die Geschichte der Hamburger Schule sprechen Myriam Brüger, einst beim wichtigen Label L’age d’or als A&R, Filmemacherin Natascha Geier und Jonas Engelmann, der das recherchestarke Buch als Herausgeber verantwortet.
Musik und Diskurs
Musik und Diskurs also. Ob eines davon näher liegt als das andere? Es gibt Popszenen und Hypes, bei denen das eindeutiger zu beantworten wäre. Dass ab Ende der 1980er viel geredet wurde, an den Hamburger Tresen, in den Proberäumen: Darüber herrscht Einigkeit bei allen, die dazu befragt wurden.
Ob das, was da beredet wurde und von wem, am Ende konstitutiver war als die Musik? Schon die drei Bands, die ab Mitte 1990er im deutschsprachigen Raum meist unter „Hamburger Schule“ firmierten, Blumfeld, Tocotronic und Die Sterne, machen ja klar: Den einen Sound aus Hamburg gab es nicht, darin unterschied sich diese lokale Szene von anderen: „Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk“.
War es dann also dieser besonders intensive Umgang mit Songtexten, schon dessen mitunter immens scheinende Menge, aber auch Verdichtung, der die Hamburger Musiker, sehr viel seltener auch -innen, dann doch wieder verwandt erscheinen ließ? Auf die Sache mit der Sprache können sich die dabei Gewesenen bis heute einigen: In den ausgehenden 80er Jahren war es schwieriger als heute, auf Deutsch zu singen. Kontaminiert war es, von Nazi-Vergangenheit, Schlagerhaftem, auch den falsch authentisch rockenden Weisen der Westernhagens; und durchaus nicht zuletzt: Deutschpunk mit seinen erstarrten Formen.
Bewegung bis in Kunst und Literatur
„Was man heute Hamburger Schule nennt, war viel mehr als Musik“, erklärt Geier in der Doku. „Eine Bewegung“ sei in den frühen 1990ern entstanden, „hier auf St. Pauli“; eine, „aus der auch neue Kunst und Literatur hervorgingen“. Von 1989 bis 2000 war die Schule geöffnet: Kaum unumstößlich, stehen diese Jahreszahlen auf dem Cover der neuen, das Buch begleitenden Compilation. 1989 erschien das Debütalbum von Kolossale Jugend um Sänger und Gitarrist (später auch taz-Autor) Kristof Schreuf.
Sein Titel, „Heile Heile Boches“, bringt am Vorabend der Wiedervereinigung ein nach vorne schauendes Nachkriegskarnevalslied („Heile heile Gänsje“) zusammen mit dem nicht gerne Erinnerten: „Boches“, das waren im Zweiten Weltkrieg die deutschen Besatzer in der Sprache der militärisch erniedrigten Französ:innen. Zusammen mit Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs wurden Kolossale Jugend als die ersten deutschsingenden Indiebands jener Hamburger Szene wahrgenommen.
Mit dem '89er-Stück „Party“ von Kolossale Jugend liefert die Compilation auch ein gutes Beispiel dafür, was eine Weile zum Hamburger Alleinstellungsmerkmal wurde: Drahtiges, auch enorm (im guten Sinne) nerviges Postpunkrumpeln, benannt hatte die Band sich in Anspielung auf ein Album der britischen Young Marble Giants. Vor allem scheint Schreuf der nur unter Schmerzen als Mutter- zu betrachtenden deutschen Sprache als Sänger mit dem Einsatz von Schneidwerkzeugen beizukommen: Sie fliege „kaputtfragmentiert aus dem Fenster“, schreibt nun Benjamin Moldenhauer über „Heile Heile Boches“ im Buch.
Fremdeln mit dem Deutschen
Unterschiedliche Grade des Fremdelns, des Wiederaneignenmüssens beschreiben auch andere Songtexter:Innen. Mit „Der Text ist meine Party“ hat der 2022 verstorbene Schreuf eine Zeile für die Ewigkeit hinterlassen – Buch und Compilation sind nun damit betitelt. Letztere Zusammenstellung leistet gute Dienste, wenn sie neben „Party“ und Musik der naheliegenden Drei (Blumfeld, Tocotronic, Die Sterne) auch einige dem Vergessen nahe Schulkameraden stellt: We Smile, Ja König Ja, Die Regierung und Fünf Freunde (Vorläufer von Superpunk).
Mit „Die Bürger von Hoyerswerda und anderswo“ von Die Goldenen Zitronen, Easy Business und Eric „IQ“ Gray wird zudem angedeutet, dass mit der Hamburger Schule auch den später eine Weile lang gut laufenden Hiphop etwas verbindet. In seinem expliziten Ansprechen zeitgenössischer rassistischer Zustände liefert der Track gleich für noch etwas den Beleg.
Den politischen Anspruch, mit dem sich die Hamburger Schule umgab. Da wurde indes oft „politisch“ gesagt (und das wird es nun auch in Doku und Buch) und gemeint war eine bestimmte linke Politik, gerichtet gegen die damaligen nationalistischen Aufwallungen, die sich ganz konkret zeigten: Es wurden von Nazis plötzlich Häuser mit Migranten drin angezündet.
Ist doch keine Standortfrage
Freilich: Kein bisschen weniger „politisch“ ist ja ein nun auch enthaltenes Stück wie Bernd Begemanns „Hitler – menschlich gesehen“. Und dass bei allem nicht-nationalistischen Anspruch Akteur:innen der Hamburger Schule schlicht nicht abschließend darüber entscheiden konnten, ob sie nun den elenden Popstandort Deutschland aufhübschen oder nicht: Das verdient nochmal eine gesonderte Betrachtung.
Nah beieinander lagen in der Hamburger Schule das Politische und das Private: Für Parolen war man sich zu schade, aber wie da einer über ein Kopfkissen textete (oder ein anderer über Heizkörper), das war mindestens neu, und also fortschrittlich. Wie persönlich nun die Chronist:innen an die Sache herangehen, das fällt auf: TV-Autorin Natascha Geier teilt mit, wie sie verbandelt gewesen war. Auch Engelmann stellt im Buch erst mal seine eigene Sprecherposition klar. Sein Blick aus der süddeutschen Ferne ist typisch: Die wenigsten auf dieser Schule hatten in Hörweite des Hamburger Hafens das Licht der Welt erblickt.
Buch: Jonas Engelmann: „Der Text ist meine Party. Eine Geschichte der Hamburger Schule“. Ventil Verlag, Mainz 2024, 248 S., 25 Euro
Album: V/A, „Der Text ist meine Party. Die Hamburger Schule 1989–2000“ (Tapete/Indigo)
Dokfilm „Die Hamburger Schule – Musikszene zwischen Pop und Politik“, Regie: Natascha Geier, NDR 2024, zwei Folgen je 30 Minuten, in der ARD-Mediathek
Veranstaltung „Der Text ist meine Party. Ein Abend über die Hamburger Schule“: Fr, 7.6., ab 18 Uhr im Knust, Hamburg
Die Rolle als Sehnsuchtsort in Ostfriesland oder Ostwestfalen verlor Hamburg Ende der 1990er an Berlin. An Saalschlachten um Deutschquoten im Radio kann man sich nun also erinnern lassen. Auch an die Affäre um Tocotronic und den von ihnen als zu nationalistisch empfundenen Nachwuchspreis. Kein Dokumentarfilm, kein einzelnes Buch kann die Geschichte der Hamburger Schule vollständig abbilden; manches Fehlende werden andere hoffentlich nachreichen. Und darin ist diese Musikszene wiederum gar nicht so speziell.
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