Historischer Präsident: Das Obama-Rezept
Obama ist in die Reihe jener US-Präsidenten gerückt, die Historisches verändert haben. Bei der Gesundheitsreform taktierte er klug und bewies politischen Mut.
Vor wenigen Tagen noch sah es so aus, als wäre Barack Obama am Ende seines ersten Amtsjahres an die Grenzen seiner Möglichkeiten gelangt. Der Präsdent des "Yes we can!", dessen Wahl einen seit Jahrzehnten nicht mehr dagewesenen euphorischen Ruck sowie gigantische Erwartungen ausgelöst hatte, schien in einer schier unauflöslichen Blockade zu stecken. Innenpolitisch wie außenpolitisch.
Die Abstimmung über die Gesundheitsreform hat diese Dynamik gebrochen. Auf einen Schlag ist Obama in die Reihe jener US-Präsidenten gerückt, die Historisches verändert haben. Die Gesundheitsreform ist ein Kompromiss. Doch vor allem ist sie der größte soziale Fortschritt, den die USA seit vier Jahrzehnten wagen. Im reichsten Land der Erde war die Ausgrenzung von inzwischen mehr als 50 Millionen Menschen aus jeder Art von Krankenversicherung seit langem ein Skandal. Doch alle bisherigen US-Präsidenten sind daran gescheitert. Zuletzt hat Bill Clinton im Jahr 1994 vergeblich eine Reform versucht. Obama ist der Mann, der es geschafft hat.
Der Weg bis zur Abstimmung im Repräsentantenhaus war laut und voller Aggressionen. Innerhalb und außerhalb des Kongresses kämpfte die Opposition mit allen Mitteln gegen die Gesundheitsreform. In der Auseinandersetzung kam es zu extremen Mitteln, wie die US-Öffentlichkeit sie lange nicht erlebt hat. Bei Demonstrationen, die bis zum letzten Moment vor der Abstimmung andauerten, beschworen die Reformgegner einen Untergang des "freien Amerikas", die Einmischung in das Privatleben der Bürger durch eine - selbstverständlich böse - "große Regierung", die Auslieferung der USA an Sozialismus oder alternativ Faschismus und einen "Freifahrschein für Abtreibungen". Auf Transparenten tauchte der Präsident mit Hitlerbärtchen oder mit dem Namen "Barack Tse-Tung" auf. Die Hasskampagnen gegen den ersten afroamerikanischen Präsidenten übertrafen alles, was seine weißen Amtsvorgänger erlebt haben.
Obama ist auf keine einzige Provokation eingegangen. Selbst auf dem Höhepunkt der Kampagne gegen die Gesundheitsreform, die immer auch eine Kampagne gegen seine Politik, seine Person und seine Vita war, hat er die Ruhe bewahrt. Nachdem der normale parlamentarische Weg Ende Januar - mit einer Nachwahl in Massachusetts und dem Verlust der demokratischen Supermehrheit im Senat - gescheitert war, nahm er die Gesundheitsreform selbst in die Hand. Er machte ihre Durchsetzung zur Chefsache. Und verknüpfte sein politisches Schicksal mit ihrem Gelingen.
Die Methode Obama ist die der hartnäckigen und langen Verhandlung auf vielen verschiedenen Schienen. Taktisch, politisch und moralisch. Nachdem er alle Wege erschöpft hatte, ging er das Wagnis einer Abstimmung ein. Dazu gehörte politischer Mut. Denn die Abstimmung war nicht von vorneherein gewonnen. Und eine Niederlage hätte zugleich das Ende jeder weiteren Reformmöglichkeit der Ära Obama besiegelt.
Auf der taktischen Ebene machte Obama mehrere spektakuläre Schachzüge. Kurz vor Ende des Reformprozesses lud er im Februar die Spitzen beider Parteien zu einem eintägigen Gesundheitsgipfel ein. Nach einem Jahr Debatte legte er dabei - vor laufenden Fernsehkameras - sämtliche Karten auf den Tisch. Und forderte die republikanische Opposition stärker als die eigenen demokratischen Gefolgsleute auf, Vorschläge zu machen, auf die er eingehen wollte. Die Botschaft an die Nation war eindeutig: Ich bin kompromissbereit. Taktisch war auch die Wahl des Abstimmungsverfahrens der "Reconciliation". Dabei kann eine einfache Mehrheit im Senat statt der sonst üblichen "Supermehrheit" eine Reform durchsetzen. Und taktisch waren auch die Vier-Augen-Gespräche, zu denen Obama jene Demokraten empfing, die ursprünglich gegen die Reform waren. Es handelte sich um 40 Mitglieder des Repräsentatenhauses. In den vergangenen Tagen und Stunden vor der Abstimmung schaffte Obama es, zumindest sechs von ihnen auf seine Seite zu ziehen. Dabei machte er politische und finanzielle Zugeständnisse, die weit auseinandergingen.
Parallel dazu - und politisch - konzentrierte Obama seine Kraft in der Endphase vor der Abstimmung im Repräsentantenhaus beinahe vollständig auf die Gesundheitsreform.
Er sprach vor Parlamentariern, reiste in einzelne Bundesstaaten, als wäre er erneut im Wahlkampf. Er trat in Rathäusern und Universitäten auf. Er sprach von "Geschichte", von "Mut", von "sozialer Gerechtigkeit" und von einer moralischen Verpflichtung - für sich und für die Parlamentarier.
Opposition der Tea Party
Das Ergebnis dieses weitgehenden persönlichen Engagements ist keineswegs ein Triumph. Am Sonntagabend votierten auch 34 Demokraten gegen die Reform. Obama ist es nicht gelungen, sie auf seine Seite zu ziehen. Schwer wiegt auch, dass sämtliche Republikaner geschlossen gegen die Reform gestimmt haben.
So viel Parteidisziplin ist in den USA selten. Das ist ein Zeichen, dass die Bipartisanship, das Parteigrenzen überschreitende Vorgehen, das Obama im Wahlkampf und zuletzt auch mit dem "Gesundheitsgipfel" postuliert hat, nicht funktioniert. Die Geschlossenheit der Republikaner bei dieser Abstimmung kündigt an, dass die Fundamentalopposition von Republikanern im Parlament und der Tea Party außerhalb in der zweiten Hälfte von Obamas Amtszeit weitergehen wird.
Obama wird das Gesetz zu der vor Wochen bereits totgeglaubten Gesundheitsreform voraussichtlich schon am Dienstag dieser Woche unterzeichnen. Noch bevor der Senat den Änderungsvorschlägen zugestimmt haben wird. Die Zeit danach wird schwierig werden. Doch dieses Mal weniger für den Präsidenten selbst als für jene Demokraten, die sich von ihm haben überzeugen lassen. Wenn sie in diesen Tagen in ihre Wahlkreise zurückkommen, werden viele schon am Flughafen von Gegendemonstranten empfangen werden. Für sie hat das Weiße Haus bereits detaillierte Argumentationshilfen entwickelt.
Der Präsident selbst hat ebenfalls noch mehrere Auftritte für die Zeit nach der Abstimmung geplant, bei denen er die US-Amerikaner von den Vorteilen der Reform für sie überzeugen will. Doch vor allem wird Obama sich nun in die anderen Reformen stürzen, die allesamt von der Gesundheitsdebatte der letzen Wochen überschattet waren. Allen voran die Arbeitslosigkeit und die Regulierung des Finanzmarkts.
Auch außenpolitisch wird der hart errungene Erfolg in der Gesundheitsreform Folgen haben. Moskau, Jerusalem, Teheran und andere Machtzentren, wo Obama zuletzt als zögerlich und schwach gegolten hat, sind vorgewarnt. Er hat seine Regierungsfähigkeit bewiesen.
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