Historiker über die Konsumgesellschaft: „Konsum ist nicht nur Erwerb“
Vor Weihnachten sind die Geschäfte wieder voll. Der Historiker Frank Trentmann über Lebensstile, Konsumkritik und die Sehnsucht nach Dingen.
taz am wochenende: Herr Trentmann, haben Sie schon begonnen, Weihnachtsgeschenke einzukaufen?
Frank Trentmann: Nein, aber ich habe eine Liste mit Ideen, die ich mir das Jahr über hinten in meinen Kalender schreibe. Wenn ich etwas über ein Buch oder einer CD lese und dabei an jemanden denke, notiere ich mir das und besorge es irgendwann im Dezember.
Ziemlich vorausschauend.
Zugegeben, bei Erwachsenen wird es jedes Jahr schwieriger, interessante Geschenke zu finden, weil wir von so vielen Dingen umgeben sind. Deshalb wählen viele Menschen lieber Geschenke, die auf der Erfahrungsebene liegen: Karten für einen gemeinsamen Konzertbesuch oder einen Gutschein für eine Kurzreise.
52, ist Professor für Geschichte am Birkbeck College in London und Autor des Buchs „Herrschaft der Dinge“ (DVA)
Wenn Sie als Konsumhistoriker auf das Weihnachtsgeschäft blicken, was sehen Sie da?
Zum einen die erneute Krise der Kaufhäuser, die heute durch das schnelle Wachstum des Onlineshoppings unter einem immensen Druck stehen. Dem versuchen sie etwas entgegenzusetzen, indem sie das physische Einkaufen wieder mehr zum Ereignis machen – mit Clowns, Livemusik, Modenschauen. Zum anderen könnten die digitalen Möglichkeiten aber auch die Essenz von Weihnachten radikal verändern.
Wie meinen Sie das?
Eine Folge des Onlinehandels ist eine Jetzt-sofort-Mentalität. Die Zeit der Sehnsucht nach Dingen wird extrem verkürzt. Ich könnte jetzt ins Internet gehen und mir etwas per Expresslieferung bestellen, das würde mir innerhalb der nächsten Stunden gebracht. Weihnachten basiert aber auf einer ganz anderen psychologischen Logik. Die Idee ist, dass man warten muss. Die Kinder schreiben Wunschzettel, fiebern auf die Bescherung hin. Die Freude an Weihnachten selbst hängt mit dieser Sehnsucht und dem Warten zusammen. Der Onlinehandel könnte zu einer fundamentalen Veränderung der Beziehung zwischen Wünschen, Erwarten und Befriedigen führen.
Gerade in der Vorweihnachtszeit sind viele von der Konsumgesellschaft genervt.
In dieser Zeit wird die Welt der Dinge stärker problematisiert als sonst. Auf der einen Seite möchten die meisten Geschenke geben und bekommen, auf der anderen Seite ist man umzingelt von einem Berg von Dingen. Es gibt deshalb einen moralischen Gegendruck zu den Geschenken und immer die Frage: Brauchen wir das alles? Ende der 60er, Anfang der 70er gab es in der Bundesrepublik in der Weihnachtszeit Mahnwachen vor Kaufhäusern, die zum Konsumverzicht aufriefen. Aus heutiger Sicht kann man sagen: Große Folgen hatten sie nicht.
In Deutschland hat heute jeder Mensch im Schnitt knapp hundert Kleidungsstücke im Schrank, zirka zehntausend Dinge besitzt jeder. Warum haben wir so viel Zeug?
Wir konsumieren, weil wir unsere Identität damit verknüpfen, welche Sachen wir haben und wie wir damit umgehen. Konsum ist nicht nur der Erwerb von Dingen. Dazu gehört auch, was wir mit diesen machen. Und selbst wenn es sich um industriell gefertigte Massenware handelt, wird diese durch ihren Gebrauch ja für uns zu etwas Eigenem. Hinzu kommt heute noch etwas anderes: Geradlinige Lebensläufe gibt es immer seltener. Wir wechseln die Partner, die Jobs. Qualifikationen, die früher wichtig waren, können morgen wertlos sein. Und das beeinflusst unseren Konsum.
Haben Sie ein Beispiel?
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Wir haben heute keine festen Generationsstrukturen mehr. Früher war es meist so, dass man nach dem Schulabschluss eine andere Lebensphase anfing und dann bis zur Rente diese Person war. Man wählte einen Lebensstil und behielt ihn bei. Man erneuerte die Kleidung, wenn sie abgetragen war, aber behielt den Kleidungsstil bei. Heute ist es so, dass Menschen viel öfter ihre Identität und ihren Platz in der Gesellschaft neu überdenken. Früher hatte man eine Lieblingsjacke, und die blieb für 20, 30 Jahre die Lieblingsjacke. Heute sagt man nach zwei, drei Jahren über diese Jacke: „Das bin nicht mehr ich.“
Gleichzeitig klagen Menschen, dass sie zu viele Sachen haben und gern mit weniger auskommen würden.
Viele sind da gespalten. Sie versuchen, etwas auszusortieren, können sich aber doch nicht davon trennen, weil bestimmte Erinnerungen daran geknüpft sind, die Sachen noch gut in Schuss sind und man sie irgendwann noch einmal gebrauchen könnte. Dinge, mit denen man eine gewisse Zeit verbracht hat, werden ja auch ein Teil der eigenen Lebensbiografie. Während man also seine weiterentwickelte Identität über neue Sachen ausdrücken will, lagert man die anderen erst mal im Karton auf dem Boden oder in der Garage ein. Und dort bleiben sie dann meist.
Die Rede von der Wegwerfgesellschaft führt da eigentlich in die Irre, oder?
Das kann man so sehen, auch wenn natürlich trotzdem wahnsinnig viel weggeschmissen wird. Wir sprechen immer darüber, dass Menschen zu viele Sachen haben. Worüber wir aber nie reden, ist das Gegenteil. Menschen ohne Sachen, die sich auch nicht mit Dingen identifizieren können. Und da zeigen ethnologische Studien – etwa aus der Nachkriegszeit, aber auch aktuelle –, dass Menschen, die praktisch keine Sachen haben, sich oft verloren fühlen. Sie leben nicht nur spartanisch, sie tun sich auch oft schwerer, engere soziale Bindungen aufzubauen. Man könnte sagen: Zu wenige Sachen können genauso auf ein Problem hinweisen wie zu viele.
Sie sprechen in Ihrer Geschichte des Konsums von der „Herrschaft der Dinge“ und setzen deren Beginn im 15. Jahrhundert an. Warum da?
Viele Historiker bezeichnen die Industrialisierung als Geburtsstunde des modernen Konsums. Es gibt aber wichtige Entwicklungen, die bereits länger laufen. Schon im 15. Jahrhundert beginnt der Konsum, Gesellschaften stark zu prägen. Hier kann man drei Regionen unterscheiden, die unterschiedlich damit umgehen: das Italien der Renaissance, China sowie zusammengefasst die Vereinigten Niederlande und England. Die Niederlande und England ziehen konsumtechnisch dann bald davon.
Woran liegt das?
Am unterschiedlichen Umgang mit den Dingen. Im Italien der Renaissance ist Privatkonsum sehr suspekt, Konsum soll dort nach außen gerichtet sein als etwas, das dem Gemeinwohl dient. Ein reicher Mann kann eine schöne Kapelle bauen lassen oder die ganze Stadt zum Essen einladen. Aber die Vorstellung, dass er sich in sein Eigenheim zurückzieht und dort schön lebt, ist gesellschaftlich nicht akzeptiert.
Wie ist das in China?
Dort gelten im 15. Jahrhundert vor allem antike Sachen als wertvoll. Der Konsum wächst auch in dieser Gesellschaft, aber der Schwerpunkt liegt auf alten Gegenständen aus der eigenen Geschichte. Das ist für die europäischen Händler ein großes Problem. Sie wollen gern chinesisches Porzellan importieren und versuchen, dafür europäische Produkte anzubieten, die ganz neu sind – was im europäischen Kontext ja positiv ist. Die chinesischen Händler antworten: „Was, das ist ganz neu? Das hat ja gar keinen Wert.“ Deshalb müssen die Europäer Gold und Silber nach Fernost verschiffen.
Prägend für unseren Konsum bis heute wird die Entwicklung in den Niederlanden und England.
Diese Länder unterscheidet, dass privater Konsum hier positiv gesehen wird. Und es gibt einen Kult um Neues, den wir bis heute kennen. Befeuert wird er damals von Händlern, die aus den Kolonien mit Dingen zurückkehren, die es zuvor nicht gab. Mit Baumwolle zum Beispiel, aber auch mit Kaffee, Tee, Tabak, Schokolade. Die Lust am Neuen kann man auch an den immer dickeren Katalogen sehen, mit denen man im 18. Jahrhundert bereits Sachen bestellen kann. Neue Getränke wie Tee ziehen das Teeservice und die Tea Party nach sich. Um das richtig zur Geltung zu bringen, braucht man wiederum neue Möbel, dazu Gardinen und Tapeten. Das sind ja alles keine lebensnotwendigen Dinge, aber werden jetzt verlangt als „normaler“ Komfort.
Woher kommt diese Nachfrage? Werbung und Marketing gibt es zu der Zeit ja noch nicht.
Frühe Formen der Reklame finden sich bereits. Im 17. Jahrhundert gibt es „Showcards“, bedruckte Karten, die Produkte anpreisen. Der Blick in die Geschichte zeigt aber auch, dass die klassische Konsumkritik mit ihrer Betonung auf Werbung und dem Konsumenten angeblich eingeredeten Bedürfnissen ziemlich überzogen war.
Inwiefern?
Es ist ein Irrglauben, zu denken, Konsumenten seien nur passive Schafe, mit denen etwas gemacht wird. Die bürgerliche Mittelschicht in England wird nicht von irgendwelchen externen Einflüssen überwältigt. Die Nachfrage schafft sie schon selbst. Für sie ist Konsum eine Möglichkeit, ihre Identität zu dokumentieren – vor allem in Abgrenzung zum Adel und den Arbeitern. Hinzu kommt: Bis ins 16. und frühe 17. Jahrhundert hinein gibt es viele kulturelle Einflüsse, die die Lust am Konsumieren eindämmen. Die Menschen bekommen von der Kanzel herab, aber auch von der Handwerkszunft oder ihren Nachbarn gesagt: „Pass auf, verschwende dein Geld nicht. Und sag bitte deiner Frau, sie soll sich nicht so bunt und auffällig anziehen.“ Das verändert sich dann. 1776 erklärt der Moralphilosoph Adam Smith den Konsum zum „Ziel und Zweck aller Produktion“.
Ein weiterer einschneidender Punkt in der Konsumgeschichte ist der Moment, in dem sich der Konsument seiner selbst bewusst wird.
Ja, im späten 19. Jahrhundert gibt es eine Reihe von Vereinigungen, die erstmals von sich selbst als Konsumenten sprechen. Als Bürger musste man vorher Eigentum haben, sonst hatte man oft auch kein Wahlrecht. Nun fängt man an, vom „citizen-consumer“ zu sprechen. Diese Gruppen sagen: „Wir sind alle Konsumenten – und das heißt auch, dass wir alle Rechte und Pflichten haben.“ Die Konsumkritik sieht den Konsumenten ja oft nur als Einzelnen mit egoistischen Interessen. Die frühen Konsumentenvereinigungen verstehen sich aber anders. Sie orientieren sich zum Gemeinwohl hin, leiten unter anderem ein Wahlrecht daraus ab.
Konsumieren als Weg zum Wahlrecht?
Das war für Frauen sehr wichtig. Mit einem ganz einfachen Argument: Hausfrauen waren zu dieser Zeit die Personen, die am meisten einkauften. Die Männer gingen arbeiten, die Frauen auf den Markt. Und dort mussten sie mit wenig Geld Entscheidungen treffen: Kaufe ich dieses oder jenes? Wenn sie das aber konnten, warum sollten sie dann auf einem Wahlzettel nicht zwischen drei oder vier Kandidaten entscheiden können?
Die frühen Konsumentenvereinigungen sprachen aber auch von Pflichten.
Es gibt um 1890, 1900 große Konsumentenligen, die zu ersten Boykotten gegen Kinderarbeit und Sweatshops in praktisch allen Großstädten der westlichen Welt aufrufen. Ihr Slogan lautet: „Kaufen ist Leben. Leben ist Macht. Und Macht ist Pflicht.“
Das klingt sehr gegenwärtig.
Das war sogar viel größer als heute, weil sich diese Vereinigungen straff und zentral organisiert haben. Es gab Marken, die auf die schwarze Liste kamen, weil dort Kinder arbeiteten. Und es gab weiße Listen mit Firmen, die einen Mindestlohn bezahlten. Der Unterschied zu heute war, dass die Verbraucher in Rom, Paris und London sich um die Kinder vor Ort sorgten, die gefährliche Streichhölzer herstellten. Die Ausbeutung in den Kolonien, etwa bei der Kakao- und Kaffeeproduktion, blendeten sie völlig aus. Heute ist es eher umgedreht: Wir haben Fair Trade und sorgen uns um die Produktionsbedingungen in weit entfernten Ländern. Aber wo gibt es von Verbraucherseite eine Kampagne gegen schlecht bezahlte Arbeit hierzulande? Das soll heute alles der Staat regeln.
Ihren Konsum verändern wollen heute aber auch viele, etwa die Verfechter der Share-Economy.
Manche Propheten behaupten, alles, was die Leute heute besitzen wollten, sei ein Smartphone. Die anderen Dinge würden sie sich leihen, wenn sie sie bräuchten. Das ist eine schöne Hoffnung, aber nicht mehr. Die Zahlen geben das nicht her. Relativ neue Daten zeigen, wie viele Sachen Haushalte in Stockholm haben: Die Zahlen haben sich in den vergangenen 15 Jahren verdoppelt und verdreifacht.
Sie sehen keine neue Ära des Teilens heraufziehen?
Die ganze Share-Economy-Debatte wird dominiert von einigen Firmen wie dem Übernachtungsportal AirBnB und dem Fahrdienstvermittler Uber, die damit Geld verdienen wollen. Wenn man einen Schritt zurücktritt, sieht man: Die modernen Gesellschaften haben schon lange Formen des Teilens. Bibliotheken, städtische Schwimmbäder, Straßenbahnen – das wird nur nicht als Sharing wahrgenommen. In vielen visionären Texten wird ein goldenes Zeitalter des Teilens ausgerufen, ich gehe aber in London die Straße runter und die örtliche Bücherei wird zugemacht. Aufgrund des Zusammenstreichens öffentlicher Mittel gibt es also eher weniger Sharing.
Aber es ist doch ein Problem, wenn wir nicht mehr teilen, sondern jeder für sich ungebremst weiterkonsumiert.
Ein riesiges Problem, ganz klar. Vor allem wegen der Umwelt. Unser hyperintensiver Konsum hat im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einem Ressourcenverbrauch geführt, der nicht nachhaltig ist. Mir wird von Konsumkritikern teils vorgeworfen, nicht kritisch genug zu sein. Da muss ich aber sagen: Die Konsumkritik selbst ist in großen Teilen faul.
Warum das?
Sie prangert immer nur an, das Bedürfnisse künstlich erzeugt werden, nimmt aber nicht das größere Ganze in den Blick. Und sie hat deshalb auch keine Lösungen für die großen Probleme. Ich sage: Lasst uns das Phänomen erst einmal ernst nehmen und verstehen, wie tief der Konsum in unserer Gesellschaft verankert ist. Es ist nicht nur die Werbung und das Marketing, und es nicht nur das Starren aufs Wirtschaftswachstum. Konsum hat alle Poren unserer Gesellschaft durchdrungen. Und er hat eine eigene Dynamik entwickelt. Wenn wir die Umweltprobleme lösen wollen, müssen wir daher anders rangehen, als nur zu sagen: weniger Wachstum.
Wie denn?
Wir müssen uns fragen, welche Dinge für uns wirklich wichtig sind, welche nicht. Verteidiger des Status quo sagen oft: „Wir können Leute nicht überzeugen, dass sie verzichten müssen. Verzichten ist doch etwas Negatives.“ Und da ist auch etwas dran. Aber Konsumformen, die weniger ressourcenintensiv sind, können auch Freude bereiten. Zum Beispiel kann es genussvoller sein, statt in wenige freie Tage eine Fernreise zu pressen, einfach nur Freunde zu treffen und ein Buch zu lesen. Die Leute beziehen ja nicht nur Freude aus ihrem Lebensstil, sondern empfinden sogar ihre Freizeit oft als stressig.
Also doch weniger konsumieren?
Auch weniger, aber vor allem klüger. Wenn ich mir die deutsche Auto-Debatte anschaue, fällt mir auf, dass sie sich vor allem um die Frage dreht: Wie kommen wir vom Diesel zum E-Auto? Statt aber jedem ein E-Auto vor die Tür stellen zu wollen, sollten wir uns lieber überlegen: Wie können wir unsere Städte und Kommunen anders planen, so dass jeder etwas weniger unterwegs ist? Das heißt nicht, dass alle immer zu Hause bleiben müssen, aber gerade bei unseren Mobilitätsmustern ließe sich über kluge Stadtplanung vieles verändern.
Ein großes Unterfangen.
Man kann aber auch beim Einzelnen ansetzen. In der Zwischenkriegszeit gab es in den USA das Programm „Home Economics“, dessen Anspruch es war, Menschen im Haushalt zu klügerem Konsumieren zu bringen. Kurz hieß die Formel: „Bei Konsum dreht es sich um Ethik und Normen.“ Ich finde diese Idee sehr sinnvoll. Da wir in einer Konsumgesellschaft leben, sollte es Teil der Ausbildung eines jeden Bürgers sein, sich damit zu beschäftigen, was es heißt zu konsumieren – und welche Folgen das hat.
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