Historiker über die Deutschen: „Andere sind da eher gelassener“
Sind die Deutschen moralischer als andere? Der Historiker Frank Trentmann hat eine Geschichte des deutschen Gewissens von 1942 bis heute geschrieben.
wochentaz: Herr Trentmann, sieben Jahre haben Sie an ihrem monumentalen, 900-seitigen Buch über Deutschland und die Deutschen gearbeitet. Haben Sie nun herausgefunden, was deutsch ist?
Er wurde 1965 in Hamburg geboren, ist Professor für Geschichte am Birkbeck College der University of London und an der Universität von Helsinki. Er erhielt u.a. den Humboldt-Preis für Forschung der Alexander von Humboldt-Stiftung. Sein Buch „Herrschaft der Dinge. Die Geschichte des Konsums vom 15. Jahrhundert bis heute“ wurde 2018 in Österreich als Wissenschaftsbuch des Jahres ausgezeichnet.
Frank Trentmann: Deutsch zu sein, bedeutet, ständig mit moralischen Fragen zu ringen. Die moralischen Themen ändern sich im Laufe der Zeit, aber es gibt ein ständiges Tauziehen, und dabei wird aus verschiedenen Richtungen gezogen. Nur wenige Deutsche machen sich gar keine Gedanken über Gut und Böse. Ich denke, die Deutschen tragen eine Art Spiegel mit sich herum, in den sie schauen und sich ständig vergewissern wollen, auf dem richtigen Pfad zu sein. Und wenn sie denken, dass sie das nicht sind, dann machen sie sich Sorgen darüber. Andere sind da eher gelassener.
Sie selbst sind in Hamburg geboren und Mitte der 1980er zum Studium nach England gezogen. Heute lehren Sie, nach einer längeren Station in den USA, als Professor für Geschichte in London. Blicken Sie als langjähriger Expat auf die Deutschen aus einer besonderen Erkenntnisposition?
Sicherlich nehme ich vieles, über das ich in meinem Buch schreibe, mit einer Mischung aus Nähe und Distanz wahr. Ich begreife mich als historischer Anthropologe. Das Buch richtet sich dezidiert an ein deutsches wie auch an ein nichtdeutsches Publikum. Es ist teilweise erschreckend, wie wenig etwa die Briten über Deutschland und seine Geschichte abseits der Person Hitler wissen. In Deutschland hingegen hält man vieles aus der eigenen Geschichte unhinterfragt für selbstverständlich. Das wird gerade aus einer gewissen Distanz und beim Blick auf einen längeren Zeitverlauf deutlich. Dabei gibt es so viel Spannendes, was man neu sehen und erzählen kann.
„Aufbruch des Gewissens“ ist weder eine unilineare Erfolgsgeschichte noch eine polemische Abrechnung mit den Deutschen. Sie schildern immer wieder auch die Ambivalenzen, Widersprüche und Spannungen der Deutschen im Umgang mit moralischen Fragen. Können Sie ein Beispiel dafür nennen?
Frank Trentmann: „Aufbruch des Gewissens. Eine Geschichte der Deutschen von 1942 bis heute“. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2023, 1.036 Seiten, 48 Euro
Als Startpunkt meiner Studie habe ich den Winter 1942/43 gewählt, mit der vernichtenden Niederlage von Stalingrad. Zusammen mit der dann immer umfassenderen Bombardierung der „Heimatfront“ wirft dies für eine zunehmende Zahl von Deutschen Fragen auf über frühere Gewissheiten: etwa dass man einen „gerechten Krieg“ kämpft oder diesen letztlich auch gewinnen wird. In dieser nun für einen selbst schrecklichen Realität beginnen einige Deutsche sich die ersten Gedanken über eine mögliche Mitschuld an der Ermordung von Juden, Kriegsgefangenen und Zivilisten zu machen. Andere dagegen ziehen den genau umgekehrten Schluss und fühlen sich bestärkt in ihrer paranoiden, antisemitischen Fantasie, dass die Juden angeblich Deutschland vernichten wollen, und fordern selbst ihre totale Vernichtung. Gleichzeitig versuchen alle ein Selbstbild vom eigenen Gut-Sein aufrechtzuerhalten.
Die Adenauer-Ära gilt heute vor allem als graue, biedere Zeit der Restauration. Sie teilen diese Einschätzung nur zum Teil. Warum?
In den 1950er Jahren gab es auch viele radikale Entwicklungen, in der die moralische Lage des Landes getestet und neu ausgerichtet wurde: Lastenausgleich, Rentenreform und Generationsvertrag, Westorientierung und Wiederbewaffnung und auch die vielen Massendemonstrationen dagegen. Bemerkenswert ist insbesondere, wie Adenauer die mit Israel und der Jewish Claims Conference ausgehandelte „Wiedergutmachung“ durch diplomatisches Geschick nicht nur gegen die Widerstände der vielen Ex-Nazis und Mitläufer durchgesetzt hat. Gegenwind hat Adenauer auch von seinen christdemokratischen Parteigenossen und seinem liberalen Justizminister Thomas Dehler erhalten. Dehler vertrat die Überzeugung, dass man moralische Verpflichtungen nicht mit Geld abzahlen könne. Insgesamt war die Wiedergutmachung ein Schritt von historischer Bedeutung, der die deutsche Verantwortung für Verbrechen anerkannte. Sie wurde aber auch als „Blutgeld“ kritisiert und schloss viele Opfergruppen aus. Für die deutsche Mehrheitsgesellschaft bot die „Wiedergutmachung“ zudem die Chance, die eigene Mitverantwortung für und in der NS‑Zeit auf den Staat abzuwälzen.
Im Ausland galt Deutschland in Bezug auf die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit lange Zeit als vorbildlich – trotz aller Versäumnisse und der häufig auch anzutreffenden Doppelmoral. Inzwischen sind jedoch immer mehr Stimmen gerade aus dem linksliberalen Milieu zu hören, die den Deutschen einen „Schuldkomplex“ attestieren. Wie ordnen Sie diese Entwicklung ein?
Der postkoloniale Diskurs, aus dem diese Form der Kritik an der deutschen Erinnerungspolitik kommt, hat in Großbritannien oder in den USA seit Langem eine viel größere Bedeutung. Es überrascht nicht, dass diese Art der Kritik inzwischen auch in Deutschland präsenter geworden ist und ein Licht auf dortige Defizite geworfen hat. Denn in der Tat hinkte die Aufarbeitung der eigenen Kolonialgeschichte in Deutschland lange Zeit weit hinterher und hat noch heute etwa in Schulbüchern keinen angemessenen Platz. Doch diese Defizite kausal darauf zurückzuführen, dass die Deutschen zu viel über den Holocaust reden, ist geschichtswissenschaftlich und politisch einfach Unsinn. Darüber hinaus sollten wir nicht vergessen, dass man in den heutigen Debatten zu Israel auch in anderen Ländern sehr viel um sich selbst kreist. In Großbritannien etwa werden aktuell die zivilen Opfer in Gaza von vielen Menschen symbolisch so stark aufgeladen, weil darüber auch der eigene Status in einer multiethnischen und multireligiösen Gesellschaft oder allgemein die Themen Kolonialismus und Rassismus verhandelt werden. Auch woanders gibt es eine Vergangenheit, die in Debatten zu aktuellen Themen nachwirkt.
In ihrem Buch schildern Sie, wie sich gerade in den 1960ern und 70ern viele Deutsche stark für die „Verdammten dieser Erde“ in der weiten Ferne interessiert haben – nicht aber für den Rassismus gegenüber den sogenannten Gastarbeitern im eigenen Land. Hängt das auch damit zusammen, dass sich die Deutschen so lange nicht als „Einwanderungsgesellschaft“ begriffen haben?
Die Sturheit, mit der so lange an der Illusion festgehalten wurde, Deutschland sei kein Einwanderungsland, ist schon sehr beachtlich. Erst recht auch, weil schon lange vor der Ankunft der sogenannten Gastarbeiter die Gesellschaft von Migration geprägt war. Bereits um die Jahrhundertwende hatten sich etwa viele Polen gerade im Ruhrgebiet angesiedelt. Allerdings haben sich schon zu Zeiten der Gastarbeiteranwerbung auf lokaler Ebene viele Wohlfahrtsorganisationen und Behörden stärker für Integration und gegen Diskriminierung eingesetzt. Insgesamt beobachte ich in Deutschland noch heute eine Tendenz, das Fremde und Anderssein nicht als Ressource oder Bereicherung zu sehen, sondern vor allem als Problem. Dazu kommt die Haltung, Probleme häufig nur bei „den anderen“ zu verorten – siehe etwa die Idee eines bloß aus muslimisch geprägten Ländern importierten Antisemitismus. Im Ausland wird all das wahrgenommen und häufig als Selbstbezogenheit und mangelnde Öffnung und Dialogbereitschaft kritisiert.
Im Juli nächsten Jahres wird das Grundgesetz 75 Jahre alt. Einige Monate später finden in Sachsen, Brandenburg und Thüringen Landtagswahlen statt – mit düsteren Aussichten angesichts der hohen Umfragewerte der AfD. Was verrät diese Parallelität über die Deutschen?
Es gibt eine lange Geschichte von antiliberalen Tendenzen und Mentalitäten in Deutschland. Damit beziehe ich mich nicht nur auf die DDR, sondern auch auf die Bundesrepublik. An der AfD ist vieles neu, aber sie baut auch auf einem historischen Fundament auf. Dazu gehören unter anderem die regionalen Erfolge der rechtsextremen Schill-Partei in Hamburg oder der Republikaner etwa in Bayern. Viele AfD-Positionen wurden in der Zeit vor Merkel von der CDU vertreten. So etwa die Idee einer unerschütterlichen heterosexuellen „Normalfamilie“, die heute durch den „Gender-Wahnsinn“ bedroht werde. In den sogenannten neuen Bundesländern kommt ein tief verankertes Gefühl der mangelnden Anerkennung und des eigenen Nicht-gehört-Werdens hinzu. Dort ist das Verständnis von Demokratie stärker plebiszitär und gegen die Eliten gerichtet. Auf den Punkt gebracht wird das durch den Slogan „Wir sind das Volk“. Rückblickend kann man sagen, dass die Idee, die AfD durch Ausgrenzung zum Einschlafen zu bringen, nicht funktioniert hat. Dafür braucht es andere Strategien. Erst recht, wenn sie über 30 Prozent der Stimmen erhält, wie das bei den kommenden Landtagswahlen wahrscheinlich ist.
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