Historiker über Geschichtsbewusstsein: „Wir brauchen Antifaschismus“
In einer Vortragsreihe in Berlin analysiert Hannes Heer die Verdrängung der NS-Zeit. Der Historiker sieht eine Rückkehr in alte Muster.
taz: Herr Heer, wann begann die Selbstaufklärung der Bundesrepublik über die NS-Zeit? Gibt es ein Schlüsselereignis?
Hannes Heer: Zwei Schlüsselereignisse. Das erste war 1956 der Film „Nacht und Nebel“ von Alain Resnais, dessen Aufführung in Cannes von der Bundesregierung verhindert wurde. „Nacht und Nebel“ zeigt, was Vernichtungslager wie Auschwitz und wer die Täter waren. Die Bundesregierung fand, dass dieser Film die Freundschaft zwischen dem deutschen und französischen Volk störe. Das hat zu eminenten Protesten von Künstlern und Intellektuellen in Frankreich und auch in der Bundesrepublik geführt.
Ist es typisch, dass der Anstoß von außen kam?
Ja, auch der Eichmann-Prozess 1961 war eine Intervention von außen. Der israelische Geheimdienst hatte Eichmann entführt, der Staat Israel macht Eichmann den Prozess. Eichmann hätte in der Bundesrepublik vor Gericht stehen müssen – aber daran hatte die Bundesregierung kein Interesse. Die Interventionen mussten wegen der Mauer des Schweigens von außen kommen. Ähnlich war es 1979 mit der US-Serie „Holocaust“.
Jahrgang 1941, lebt als Historiker und Publizist in Hamburg. Am Sonntag, den 19. Oktober um 11 Uhr in der Urania befasst er sich im Rahmen seiner Vortragsreihe „Der Skandal als vorlauter Bote“ mit dem Eichmann-Prozess 1961. Am 3. November folgt die Auseinandersetzung mit Rolf Hochhuths „Der Stellvertreter“, am 15. Dezember mit dem „Aufstand gegen die Nazigeneration (1965–1968)“. Die Reihe über die großen deutschen Geschichtsdebatten läuft bis Mitte 2020, der Eintritt ist frei.
Gab es in den späten 50er Jahren nicht auch in Deutschland Problematisierungen der NS-Zeit – etwa 1959 die Proteste gegen antisemitische Schmierereien in Köln?
Ja, aber das hat die massive Verleugnung der Völkermorde an den Juden und den slawischen Völkern nicht durchbrochen. In Köln wurden die beiden Täter aus einer Neonazi-Partei verurteilt. Das öffentliche Bewusstsein, die Nazizeit als bloßes Zwischenspiel zu behandeln, hat das nicht angekratzt. Für die Adenauer-Republik waren Hitler und die SS die Alleinverantwortlichen. Auch die SPD strebte eine innere Versöhnung mit den Millionen Ex-Nazis an.
Die Westdeutschen waren schon Mitte der 1950er Jahre überzeugt, von Hitler erst verführt worden, dann Opfer des Krieges und schließlich auch noch Geschädigte der Besatzungsmächte gewesen zu sein. Es gab zwar dauernd kleinere Skandale. Hier wurde der Chef eines Landeskriminalamtes als SS-Schlächter in Minsk enttarnt, dort ein Landesgerichtspräsident als Massenmörder. Aber das Massiv der Verleugnung blieb unerschüttert.
Und die Sprengmeister waren die 68er?
Das ist komplexer. Die Generation der Kinder der Täter hatte es mit schweigenden und zum Teil mit traumatisierten Eltern zu tun, die mit aggressiver Zurechtweisung oder Abbruch reagierten, wenn man das Thema ansprach. Unsere Generation hat einen gesellschaftlichen Selbstreinigungsprozess ausgelöst. Der hatte zwar irrationale Anteile – es war Rache an den Eltern, eine generationelle Kriegserklärung, die mit der eigenen Identitätsfindung verknüpft war. Wir haben zum Beispiel nur die Täter angeklagt und uns nicht um die Geschichte der ermordeten Juden gekümmert.
68 war eine kollektive Antwort auf ein kollektives Versagen. Der Protest hat, wie es Norbert Elias prägnant formuliert hat, die Wir-Schicht getroffen, die kollektive, durch eine ungeheure Schuld gestörte Identität der Deutschen. 68 hat, trotz aller Pathologien und Neurosen, alle folgenden Geschichtsskandale maßgeblich beeinflusst.
Die 68er waren in Bezug auf die NS-Zeit ambivalent, weil sie Aufklärung und Generationenkonflikt verknüpften?
Ja, sicher. Wir waren als Kinder eng verbunden mit unseren Vätern. Ich habe meinen Vater in den 60er Jahren, nachdem ich erfahren hatte, dass er Nazi war, nach dem Warum gefragt. Er hat mir nie eine Antwort gegeben. Unsere Väter und Mütter haben geschwiegen, und wenn man dieses Erbe, das Schweigen, nicht annahm, gab es Krach. Ich durfte ab 1968 mein Elternhaus nicht mehr betreten und wurde enterbt.
Die Historikerin Christina von Hodenberg hält die Revolte der Söhne gegen die Naziväter für einen literarischen Mythos, der die Frauen ausklammert …
Das ist oberflächlich und hat mit der realen Geschichte nichts zu tun. Neu ist daran nur, dass von Hodenberg den Feminismus benutzt, um die 68er-Bewegung zu diffamieren.
Kann man die Geschichte der Bundesrepublik als zaghaften Prozess wachsender Aufklärung über die NS-Zeit beschreiben?
Ja. Die 80er und 90er Jahre sind dafür entscheidend. Der Historikerstreit endet mit der Niederlage von Ernst Nolte und einem Sieg von Habermas’ Idee, die universellen Menschenrechte als Grundlage für Demokratie zu verstehen. Das Publikum strömt zu den Lesungen aus Viktor Klemperers Tagebüchern. Eine Million Menschen besuchen die Wehrmachtsausstellung. Die Bundesrepublik war bereit, die Tatsache der beiden Völkermorde zu akzeptieren. Dieser Fortschritt wurde aber sofort bekämpft. Martin Walsers Rede von 1998 mit seinem Lob des Wegsehens und Verdrängens belegt das ebenso wie der Erfolg von Jörg Friedrichs Buch „Der Brand“, das den Luftkrieg als Holocaust an deutschen Zivilisten beschreibt.
Es gibt also ein erinnerungspolitisches Rollback?
Ja, die Reihe der Beispiele ist ja länger. Günter Grass schreibt die Novelle „Im Krebsgang“ und insinuiert, dass es Neonazis nur gibt, weil wir die Verbrechen an den Deutschen ignoriert haben. In „Der Untergang“ sind Hitler und Goebbels pathologische Fälle, die den vernünftigen Generälen keine Chancen lassen. In „Unsere Mütter, unsere Väter“ hat die Elterngeneration nie etwas mit HJ oder BdM zu tun gehabt und den Völkermord im Osten hat es nie gegeben. All diese Bilder zeigen Deutsche als Opfer. Der Geschichtsrevisionismus der AfD und der offene Neonazismus von Höcke knüpfen genau dort an. Wenn Gauland die NS-Zeit „einen Fliegenschiss“ nennt oder erklärt, man dürfe „stolz sein auf deutsche Soldaten in zwei Weltkriegen“, ist das die Rückkehr in die 50er Jahre.
Hilft historische Aufklärung dagegen?
Nicht allein. Man muss den Jüngeren weiterhin vermitteln, was nach 1933 geschah. Aber man muss auch scharf die politisch Verantwortlichen kritisieren, die den Neonazismus, von Wehrsportgruppen bis zum NSU, sträflich unterschätzt haben. Und wir brauchen Antifaschismus als Minimalkonsens aller Demokraten und die entsprechende Praxis der politisch Verantwortlichen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut