Historiker Götz Aly über Euthanasie: „Ich habe katholisch geantwortet“
Götz Aly und Morlind Tumler haben eine behinderte Tochter. Ein Gespräch über sein neues Buch, Euthanasie und integrative Wohngemeinschaften.
taz: Frau Tumler, Herr Aly, ich habe einen Bruder mit dem Downsyndrom. Deswegen schreibe ich als Journalistin selten zum Thema Behinderung; ich bin persönlich zu stark involviert. Sie, Herr Aly, haben nun Ihr Buch „Die Belasteten“, eine Gesellschaftsgeschichte über Euthanasie zwischen 1939 bis 1945, herausgebracht. Auch Ihre Tochter Karline ist schwerbehindert – konnten Sie die wissenschaftliche Arbeit von der emotionalen Ebene trennen?
Götz Aly: Karline gab mir das Thema. Bald nach ihrer Geburt begann ich, mich mit der Euthanasie zu beschäftigen. Es kommt in vielen meiner Bücher vor, weil die sogenannten Euthanasiemorde für die gesamte Verbrechensgeschichte des Nationalsozialismus von zentraler Bedeutung sind.
Wer hinnimmt, dass die eigenen Angehörigen halböffentlich ermordet werden, der bleibt gleichgültig, wenn später sechs Millionen Juden in den Tod deportiert werden und zwei Millionen sowjetische Kriegsgefangene in deutschen Lagern verhungern.
Sie betrachten Ihre Betroffenheit als Stärke?
Götz Aly: Ja. In der zeitgeschichtlichen Literatur zu den Morden an psychisch Kranken und dauerhaft geschädigten Menschen wird viel über die Opfer, die bösen Ärzte und Nazis geschrieben. Es wird so getan, als hätten nicht auch viele Angehörige, nahe Verwandte die „Verlegungen“ in die Todeszentren ohne Widerspruch hingenommen und – nicht ganz selten – auch begünstigt.
Eine entscheidende Frage auf dem Formular zur Vorbereitung der Deportationen lautete: Wie oft erhält der Anstaltsinsasse Besuch und von wem?
Die Eltern: Götz Aly (66) ist mit Monika Aly verheiratet, mit der er drei Kinder hat. Morlind Tumler (66) hat noch eine weitere Tochter aus einer anderen Beziehung.
Das Thema Euthanasie ist bis heute mit Tabus belegt …
Götz Aly: … nicht aus Ehrfurcht vor den Opfern. Viele Deutsche schwiegen nach 1945, weil sie ihre kranken Verwandten an das Programm zur staatlichen „Erlösung“ ausgeliefert haben und die objektiv vorhandenen Möglichkeiten zum Schutz der Bedrohten nicht genutzt hatten.
Etwa 200.000 Deutsche wurden zwischen 1940 bis 1945 ermordet, weil sie psychisch krank oder behindert waren. Nur wenige lehnten sich gegen die Tötung ihrer Angehörigen auf. Warum?
Götz Aly: Es herrschte Krieg. Die Familien hatten damals deutlich mehr Kinder als heute, deutlich weniger Geld und Wohnraum. Es gab keine staatliche Unterstützung, im Gegenteil: Im Fall der Geburt eines behinderten Kindes wurden alle sozialen Hilfen für die gesunden Kinder gestrichen. Die Familie, ja selbst die „Sippe“ galt nun als erbkrank und war damit insgesamt in ihren Zukunftschancen bedroht.
Dass sich in einer solchen Situation Ratlosigkeit, Gereiztheit und auch Todeswünsche gegenüber einem dauerhaft hilfsbedürftigen Familienmitglied entwickeln, ist nicht verwunderlich. In dieser Situation bot der Staat an, das Problem zu lösen, und zwar so, dass man wegsehen konnte, das eigene Gewissen nicht belasten musste.
Zu diesem Zweck wurden fingierte Todesursachen erfunden und amtliche Beileidsbriefe getippt. Dieses Programm hatte Erfolg: Die Verwandten der Ermordeten konnten sich zwischen Nichtwissenwollen und Nichtwissenmüssen aus der Affäre ziehen und schweigen.
Frau Tumler, gab es bei Ihnen während der Schwangerschaft das Gedankenspiel: Was wäre, wenn … ?
Morlind Tumler: Nein, über solch ein Unglück haben wir uns nie Gedanken gemacht …
Unglück?
Morlind Tumler: Natürlich. Wie würden Sie es nennen?
Mich irritiert das Wort Unglück in diesem Zusammenhang.
Morlind Tumler: Ich hatte bestimmte Vorstellungen, und die waren auf einmal hin. Selbstverständlich hatte ich mir ein gesundes Kind gewünscht, und lange Zeit habe ich auch noch gehofft, dass sich Karlines Zustand bessern würde.
Karline erlitt unmittelbar nach der Geburt eine Gehirnentzündung. Der Oberarzt der Intensivstation sagte Ihnen, Herr Aly, das Kind werde sehr schwer behindert sein, wenn es denn, was sehr unsicher sei, die kommende Nacht überstünde.
Götz Aly: Ich habe das als kodierte Frage aufgefasst und geantwortet, er solle alles Menschenmögliche tun, um ihr Leben zu retten.
So selbstverständlich, wie Sie das schildern, ist die Entscheidung nicht.
Götz Aly: Ich war einer Sekundensituation ausgesetzt und habe gewissermaßen katholisch geantwortet, allerdings mit der Sicherheit, auch im Namen von Morlind Tumler, der Mutter, zu sprechen.
Morlind Tumler: Unsere Tochter kam zart und schön auf die Welt, ich habe mich auf dieses Kind unglaublich gefreut. Da kann ich doch nach einigen Tagen nicht sagen, so, das will ich jetzt nicht, weil es schwerbehindert ist. Das ist unvorstellbar.
War Ihnen damals schon klar, wie sehr Karline Ihr Leben verändern würde?
Götz Aly: Wir erfreuten uns einer gesunden Naivität. (lacht)
Morlind Tumler: Es hat ein Jahr gedauert, bis ich eine Ahnung davon hatte, was das bedeutet. Nach wenigen Monaten kamen bei Karline auch noch epileptische Anfälle hinzu. Erst nachdem wir Karlines schulmedizinische, sehr reduzierende Medikamente abgesetzt hatten, stabilisierte sie sich. Seither ist sie relativ gesund.
Ich hatte viel Unterstützung von Götz, von Freunden, und meine ältere Tochter liebte ihre kleine Schwester so, wie sie war. Das gesellschaftliche Klima in Berlin war günstig. Es gab erste Projekte zur Integration von behinderten Kindern.
Gottfried Bonell, der Amtsgutachter, der Karlines Behindertengrad einstufte, war an Euthanasiemorden beteiligt. Was haben Sie empfunden, als Sie dies später herausfanden?
Götz Aly: Mich hat das nicht überrascht. Wie die meisten ehemaligen Nazis hat auch Bonell später in der Bundesrepublik normal funktioniert. Das ist ja das Verstörende: Die Mörder waren vorher und nachher nicht kriminell. Bonell war in den 1980er Jahren ein freundlicher und korrekter Amtsgutachter.
Ein Mitläufer also?
Götz Aly: Die Täter waren nicht stramme Nazischergen, sondern durchaus reformorientierte, engagierte Mediziner. Ich habe mit Fritz Kühnke gesprochen, einem Kinderarzt aus Hamburg-Altona.
Er hatte während des Krieges 40 Kinder ermordet und konnte sich hinterher nicht mehr erklären, warum er das getan hat. Kühnke war das Inbild eines guten Kinderarztes.
Kommen wir zu was ganz anderem. Seit dem vergangenen Dezember lebt Karline in einer Wohngemeinschaft. Wie geht es ihr?
Morlind Tumler: Sehr gut, dort ist es auch nicht so langweilig wie zu Hause. Es herrscht dort mehr Leben als hier, sie genießt den Radau durch die anderen Mitbewohner. Dazu kommt noch, dass der Einzelfallhelfer, der uns hier in den vergangenen Jahren zweimal in der Woche unterstützt hat, vom Trägerverein des Wohnprojekts als Betreuer eingestellt wurde und dort weiter für Karline zuständig ist.
Ich bin überrascht. Die wenigsten Familien, die ich kenne, sind zufrieden mit der Versorgung ihrer behinderten Angehörigen.
Götz Aly: Natürlich gibt es Einrichtungen, die nicht so gut sind. Auch gibt es Eltern, die mit ihrem Schicksal hadern und deshalb unentwegt etwas von den Ämtern und Krankenkassen fordern.
Frau Tumler, Karline hat bei Ihnen gelebt. Warum ist sie erst im späten Alter von 33 Jahren ausgezogen?
Morlind Tumler: Weil ich mir die Wohnangebote für so schwer behinderte Menschen, die ich bis dahin gesehen hatte, für meine Tochter nicht vorstellen konnte. Doch haben es die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Vereins „Zukunftssicherung“ Karline und mir ermöglicht, den Auszug gut vorzubereiten.
Über drei Jahre gab es regelmäßige Treffen der künftigen Bewohner und auch der Eltern zum Kennenlernen und zum Abbau der Ängste und Sorgen.
War es schwierig für Sie, Karline wegzugeben?
Morlind Tumler: Der lange Vorlauf hat diesen Schritt sehr erleichtert. Die äußeren Bedingungen im Wohnprojekt sind gut, die Betreuer sehr engagiert. Die Nähe, die wir durch den gemeinsamen Alltag hatten, ist zwar nicht mehr da, aber ich besuche sie oft, und alle 14 Tage verbringt sie das Wochenende bei mir, manchmal auch bei Götz.
Ich fühle mich sehr entlastet, psychisch und vor allem physisch. Meine Kräfte sind nicht unbegrenzt, und ich bin sehr froh darüber, dass es ihr dort offensichtlich gut geht.
Haben Sie Karline jemals als Belastung empfunden?
Götz Aly: Karline ist eine Belastung. Sie muss getragen werden, braucht eine Rundumpflege. Bei aller Hilfsbedürftigkeit lacht und weint sie, zeigt Freude und schlechte Laune, liebt Musik, gutes Essen, gelegentlich etwas Bier und Gäste.
Bei unseren gesunden Kindern und Enkelkindern geht das Leben immerzu weiter, bei Karline wird manches schwieriger – und dennoch: Sie ist ein liebenswerter Mensch.
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