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Hilfe für die Bewohner der Kartonhäuser

Japan muß im Zuge der schweren Rezession die Solidarität mit den gesellschaftlich Ausgegrenzten erst neu erlernen. Das fällt den wenigen christlichen Kirchen bisher leichter als den zahlreichen buddhistischen Sekten  ■ Aus Yokohama André Kunz

Der Sonntag beginnt für So Yongi um vier Uhr in der Frühe. Jede Woche trifft sich die junge Sozialarbeiterin mit fünf Helferinnen in der protestantischen Kirche von Yokohamas Kotobuki-Viertel und lädt mehr als hundert Essensboxen in zwei Autos. Die Essensrationen sind für die Ärmsten der Millionenstadt bestimmt – die Obdachlosen von Kotobuki. „Innerhalb eines Jahres hat sich die Zahl fast verdoppelt. Unsere Hilfe ist nötiger denn je“, sagt Frau So und lenkt den Wagen im Morgengrauen zur Essens-Verteilstelle.

Dort warten in Decken gehüllt und fröstelnd bereits mehr als zwanzig Männer auf die frühe Mahlzeit. Hiroshi T., der ehemalige Gerüstbauer, hat zwei Tage lang nichts gegessen und verschlingt den Reis mit Soja und einem Stück Huhn an Ort und Stelle. Er kennt Frau So und ihre Helferinnen schon seit vier Jahren. Bis vor einem Jahr arbeitete Hiroshi einmal wöchentlich als Tagelöhner auf dem Bau und verdiente damit das Geld für zehn Mahlzeiten. Jetzt ist er völlig auf die Hilfe der Kirche und von Freiwilligengruppen der Stadt angewiesen.

Hiroshi führt uns durch die Gassen zu seiner Behausung. Es ist ein typisches Kartonhaus, das japanische Obdachlose von Tokio bis Fukuoka im Freien aufstellen. Außer der Decke und ein paar alten Magazinen gibt es nichts in seinem Unterschlupf. „Mehr brauche ich nicht. Den Tag verbringe ich mit Nachdenken, Spazieren und Plaudern“, sagt der 63jährige. In seiner Straße leben dreißig andere Männer in den sechzigern, und sie fühlen sich als Familienangehörige. „Gebrechliche werden versorgt, solange es geht“, sagt Hiroshi. Doch gerade im Winter sterben Menschen in der Kälte, ohne daß die Nachbarn es bemerken. Nur in solchen Fällen kommt die Polizei und schafft die Toten weg.

„Entschuldigung, daß ich euch Umstände bereite“, heißt die Dankesformel der Armen von Kotobuki, wenn sie von Frau So Essen entgegennehmen. In einer halben Stunde sind die Rationen weg. Die Aktion der sechs Frauen gehört zu den sozialen Pflichten der Mitglieder der Canaan Christ Church.

Als die Kirche vor sechs Jahren mit dem Verteilen von Essen begann, war das in Yokohama ein Sonderfall. Seitdem hat sich das Heer von Obdachlosen als direkte Folge der Wirtschaftskrise verdreifacht. Heute zählt die Millionenstadt rund tausend Obdachlose. Das sind zwar wenige im Vergleich zu Tokio (10.000) oder Osaka (6.000), doch für die Frauen der Canaan Kirche eindeutig zu viel. Seit zwei Jahren helfen drei Freiwilligengruppen der Stadt und verteilen regelmäßig Essensrationen. So erhalten jeden Tag mindestens 150 Obdachlose eine Mahlzeit.

Andere religiöse Gruppen wie die zahllosen und reichen buddhistischen Sekten des Landes sind in Vierteln wie Kotobuki nicht zu finden. Nicht einmal die schwerreiche Riesensekte Soka Gakkai mit mehr als acht Millionen Mitgliedern in Japan hat ein Hilfsprogramm für die Obdachlosen auf die Beine gestellt. Ihr geistliches Oberhaupt, Ikeda Daisaku predigt zwar weltweit einen sozialen Humanismus, der auf buddhistischen Prinzipien fußt. In Japan nutzt die Soka Gakkai aber lieber ihren politischen Arm, die Komeito-Partei, um umstrittene Sozialprogramme mit Steuergeldern zu fördern.

So werden auf Initiative der Komeito im Frühjahr Geschenkgutscheine im Wert von je 350 Mark an Familien mit Kindern unter 15 Jahren verteilt. Das kostet die Staatskasse über sieben Milliarden Mark und soll die Konsumlust der Japaner ankurbeln, um den Weg aus der tiefsten Rezession nach dem 2. Weltkrieg zu finden.

Den Bedürftigsten hilft das indes wenig. Hiroshi und seine Kollegen wissen die Hilfe der Christen zu schätzen.

„Sie geben uns, ohne etwas zurückzufordern. Sie nennen es Solidarität“, sagt Hiroshi, der noch nie eine Bibel aufgeschlagen hat. „Den Sinn dieser Worte verstand ich erst, nachdem ich in diese Not gefallen war“, gibt er nachdenklich zu. Hiroshi würde am liebsten schon morgen wieder auf einer Baustelle Gerüste hochziehen, um seine eigene Mahlzeit selbst bezahlen zu können. Doch mit der Krise in der Bauindustrie sind seine Dienste als Tagelöhner nicht mehr gefragt.

Die Canaan Christ Church rechnet im nächsten Jahr mit 500 zusätzlichen Obdachlosen in der Stadt Yokohama. Von der Stadtregierung erwarten die Freiwilligen wenig finanzielle Hilfe, da Yokohama in den roten Zahlen steckt und an allen Enden spart.

„Das soziale Elend wurde in Japan lange verdrängt, weil es im Zuge des Fortschrittsglaubens als vorübergehendes Symptom betrachtet wurde“, erklärt Frau So die ungenügende Sozialhilfe. Mit der schweren Rezession habe ein Prozeß des Umdenkens begonnen, in dem eine neue Solidarität für gesellschaftlich Ausgegrenzte gefordert werde. „Ein Lichtblick sind die neu gebildeten Freiwilligengruppen, die christliche Kirchen immer stärker unterstützen“, sagt Frau So.

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