Heruntergekommene Unterkunft in Stade: Obdachlose haben keine Priorität
Die Unterkunft am Fredenbecker Weg in Stade ist völlig verwahrlost. Die Politik kann sich nicht auf ein Vorgehen einigen und schiebt das Thema weg.
Nur eine Hecke trennt am Fredenbecker Weg die Menschen, die den Traum vom Eigenheim leben, von denjenigen, die am Tiefpunkt ihres Lebens angekommen sind: Auf der einen Seite steht ein schickes Neubaugebiet, auf der anderen stehen verwahrloste Baracken. Das Gelände der Unterkunft ist vermüllt und wenn es regnet, sammelt sich das Wasser an manchen Eingängen so tief, dass die Bewohner*innen beim Vor-die-Tür-Treten bis zu den Knöcheln versinken würden.
Norbert ist seit zwei Tagen hier, als die taz nord mit ihm spricht. Er wohnt in der heruntergekommenen Baracke am Eingang der Unterkunft. Seine Freundin hat ihn aus ihrem Haus geworfen. Er soll im Alkoholrausch gewalttätig geworden sein. Deprimiert sitzt er auf dem Bett in dem dreckigen und kaputten Zimmer. „Ich hätte entweder hierhin gehen oder in Polizeigewahrsam bleiben müssen“, sagt er. „Ich wäre mal besser bei der Polizei geblieben.“
Norbert kann sich nicht waschen und nicht kochen. An der Wand sind zwar noch die Überreste einer Dusche zu erkennen, aber aus dem Hahn kommt kein Wasser mehr. Norberts Zimmer lässt sich nicht verschließen. „Ich sitze hier wie auf dem Präsentierteller“, klagt er. Ein Handtuch zwischen Tür und Türrahmen verhindert, dass sie komplett aufschwingt. „Ich kann in der Nacht kein Auge zumachen“, sagt Norbert. „Hier kann ja jeder einfach reinkommen.“
Norbert leidet an Panikattacken. In der Unterkunft fühlt er sich nicht sicher, sein Nachbar soll gewalttätig sein. Er traut sich nicht, einkaufen zu gehen, weil er befürchtet, das Wenige, was er noch hat, könnte geklaut werden. Plötzlich geht das Radio, das ihm ein anderer Bewohner geschenkt hat, an. „Ui, der Strom geht wieder“, sagt Norbert.
Die Baracke, in der der 56-Jährige wohnt, soll eigentlich abgerissen werden. Ersatzweise stehen Container auf dem Gelände, aber noch sind diese nicht bewohnbar. Ein anderer Bewohner kritisiert, dass die Stadt sich nicht um die Unterkunft kümmere: „Die Zustände sind schlecht. Hier beklauen und verprügeln sich alle gegenseitig und die Polizei schaut weg.“
In der Neubausiedlung gegenüber herrscht vor allem Mitgefühl mit den Obdachlosen. „Die Menschen da stören mich nicht, aber es wäre schöner, wenn man sie wieder in die Gesellschaft integrieren würde, anstatt sie hier an den Stadtrand abzuschieben“, sagt einer der neuen Hausbesitzer*innen. Dass sich die Stadt zu wenig um die Unterkunft und deren Bewohner*innen kümmert, sieht man hier so wie in der Unterkunft.
Tristan Jorde von der Linkspartei hat sich der Unterkunft und ihrer Bewohner*innen angenommen. Schon vor dem neuesten Antrag wies seine Partei immer wieder auf die Lage am Fredenbecker Weg hin. Im November forderte Jorde, dass das Problem im Sozialausschuss und nicht im Sicherheitsausschuss diskutiert wird – und stieß damit auf Ablehnung. „Es ist eine langjährige, traurige Geschichte“, sagt er. „Die Bewohner leben in menschenunwürdigen Verhältnissen und für die Stadt sind sie nur eine Frage der Sicherheit.“
Im Februar kündigte die Stadt ein Konzept an, welches jedoch nie erschien. Eine Ausschusssitzung im Juni wurde kurzfristig abgesagt – wohl weil am selben Tag das Ratsschießen stattfand. Die Ablehnung seines neusten Antrags, ein Konzept zu erstellen, kann Jorde nicht verstehen: „Niemand von den anderen Fraktionen hat auch nur erwogen, die Betroffenen einzubeziehen“, sagt er. „Das scheint völlig außerhalb des Denkradius zu liegen.“
Die Lebensraum-Diakonie, mit der die Stadt seit 2019 bei der Bekämpfung der Obdachlosigkeit kooperiert, soll nun einen Bericht vorlegen, der die Lage der Obdachlosen in Stade erfasst. Dann könne gehandelt werden. Die Menschen in der Unterkunft müssen also weiter warten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld