Herkunftsnennung bei Straftaten: Die Gefahr der Obsession
In den letzten fünf Jahren nennen Nachrichtenbeiträge immer häufiger die Herkunft von Tatverdächtigen. Das ergibt eine neue Studie.
Das Ergebnis: Noch 2014 spielte die Herkunft von Tatverdächtigen in den Nachrichten kaum eine Rolle: Nur knapp 5 Prozent der untersuchten Beiträge enthielten Informationen zur Herkunft der Beteiligten. Am nächsten Untersuchungspunkt jedoch, dem Jahr 2017, war der Anteil massiv nach oben geschnellt. Nun waren es knapp 18 Prozent.
Im laufenden Jahr 2019 war es dann sogar fast jeder dritte Beitrag, gut 31 Prozent. Dazu kommt, dass in jeder Stichprobe die Tatverdächtigen überproportional oft als ausländisch markiert wurden – während laut Kriminalstatistik zwei Drittel der Tatverdächtigen die deutsche Staatsbürgerschaft haben. „So entsteht ein Zerrbild“, sagt der Journalismusforscher und Autor der Untersuchung, Thomas Hestermann.
Was ist passiert in den letzten Jahren? Es gibt mehrere Deutungsmöglichkeiten. Die Macromedia leitet ihre Studie mit der Silvesternacht in Köln 2015/16 ein und sieht sie als Ereignis, mit dem „Vorbehalte gegenüber Eingewanderten und Geflüchteten neue Nahrung“ erhalten hätten sowie als „Initialzündung eines gewachsenen Misstrauens gegenüber dem Journalismus“.
Richtig ist: Die Raubüberfälle und Übergriffe auf Frauen auf der Domplatte damals erzeugten eine heftige Debatte über die Repräsentation von Herkunft in der Berichterstattung über Gewaltdelikte. Der über Jahrzehnte etablierte journalistische Grundsatz, dass Herkunft – genauer: Nationalität – von Tatverdächtigen nur bei einem Sachzusammenhang zu nennen ist, wurde infrage gestellt.
Sachbezug oder „Interesse“
Die Sächsische Zeitung beschloss im Nachgang, künftig immer die Herkunft zu nennen, sofern sie von der Polizei gemeldet ist – und zwar auch, wenn es sich um deutsche Staatsbürger*innen handelt. Und schließlich entschied der Presserat 2017, den „Sachbezug“ als Voraussetzung aus dem entsprechenden Artikel des Pressekodex zu streichen und stattdessen ein „begründetes öffentliches Interesse“ an seine Stelle zu setzen. Für Hestermann eine „fatale Entscheidung“.
Ähnlich sieht es Konstantina Vassiliou-Enz von der Initiative Neue Deutsche Medienmacher*innen. „Die Verknüpfung von Herkunft und Straftaten ist unsachlich“, sagt Vassiliou-Enz. Es gebe selbstverständlich Fälle, bei denen die Herkunft zum Verstehen der Geschichte unabdingbar sei. „Aber die bilden die absolute Ausnahme.“
Konstantina Vassiliou-Enz
Anderer Ansicht war Heinrich Maria Löbbers, stellvertretender Chefredakteur der Sächsischen Zeitung. „Wenn wir die Nationalität nicht nennen, schaffen wir Freiraum für Spekulation“, sagte Löbbers. Die Redaktion sehe sich mit Gerüchten in sozialen Medien konfrontiert sowie mit Leser*innen, die davon ausgingen, dass die Herkunft aufgrund eines Verbots nicht genannt werde.
Dem widersprach Thilo Cablitz, Sprecher der Polizei Berlin. „Die Nennung der Herkunft ändert an den Gerüchten in der Filterblase rein gar nichts.“ Laut Cablitz nenne die Berliner Polizei die Herkunft in Pressemitteilungen nur bei konkretem Sachbezug – gebe die Information, sofern bekannt, aber auf Nachfrage an Journalist*innen.
Die Info kommt von der Polizei
In fast allen Fällen kommen Redaktionen über die Polizei an Information über die Herkunft von Tatverdächtigen. Ob die Polizeipressestellen ebenfalls häufiger die Herkunft nennen, untersuchen die Macromedia-Forscher*innen aktuell noch. Es gebe dafür aber schon Anhaltspunkte, sagt Hestermann.
Womit die Verantwortung wieder mal effizient hin- und hergeschoben wäre. Bleibt die Frage, wie der massive Anstieg der Herkunftsnennung zu interpretieren ist. Konstantina Vassiliou-Enz findet, dass die Frage leicht zu beantworten ist: „Wir haben es mit einer Kulturalisierung von Kriminalität zu tun.“ Das hieße: Nachrichten bewegen sich von einer realistischen Abbildung weg zu einer Obsession mit der Herkunft.
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