Helmut Newton im Museum für Fotografie: Sehnsucht nach nie erlebten Zeiten
Ein Modefotograf, der sich selbst in den Kleidungsstücken ablichtet? Das ist bei Helmut Newtons Bildern keine Ausnahme.
Wo der Fotograf selbst zum Model wird, handelt es sich mit einiger Wahrscheinlichkeit um eine Aufnahme von Helmut Newton. Anstatt die einfache Lösung zu wählen und ein männliches Model für eine Werbekampagne in der italienischen Männer-Vogue einzusetzen, nahm sich Newton die künstlerische Freiheit, sich selbst im Spiegel abzulichten. 1981 soll er den Burberry Trenchcoat präsentieren und gibt diesem Bild nicht nur durch seine Anwesenheit einen besonderen Reiz. In „Selbstportrait mit Frau und Model“ füllt den linken Bildrand die Rückseite eines nackten weiblichen Models.
Sie posiert, bekleidet mit nichts außer High Heels, vor dem großen Spiegel im Zentrum des Bilds. Hinter ihr beugt sich Newton zum Sucher seines auf den Spiegel gerichteten Fotoapparats hinab. Obwohl diese Komposition für eine erfolgreiche Kampagne reichen könnte, geht er noch weiter. Ganz rechts im Bild sitzt eine Zuschauerin, seine Frau June Newton, mit dem Kopf in der Hand aufgestützt und den Beinen überschlagen, betrachtet sie die Szene.
Nicht gelangweilt, eher aufmerksam, aber passiv zugleich. Sie ist sich wohl nicht bewusst, dass sie gerade im Begriff ist, Teil der Arbeit zu werden. Hinter ihr öffnet die Studiotür die Aussicht auf eine Pariser Straße. Und ganz links im Spiegel erscheint ein weiteres Paar Beine in hohen Schuhen.
Nacktheit fängt den Blick ein
Das eigentliche Objekt, der Regenmantel, scheint im ersten Moment im Gemenge der Personen unterzugehen. Die Größe und Nacktheit des sich langstreckenden Models fangen zuerst den Blick ein, dieser wandert aber sofort hinüber zu June, die nicht nur die Szene, sondern auch die außenstehenden Betrachter:innen beobachtet. Erst danach gewinnen der Fotograf und damit der Regenmantel die Aufmerksamkeit. Ob das die richtige Herangehensweise an ein Werbefoto für einen Burberry-Mantel ist, bleibt im ersten Moment fraglich. Sollte er nicht die Hauptrolle im Bild übernehmen?
Mit der bewusst gewählten Leserichtung leitet Newton die Aufmerksamkeit von der Rückseite des Models zu ihrer Vorderseite. Daraufhin fühlt man sich als Betrachter:in von June ertappt, allerdings nur für eine Millisekunde, denn ihr Blick ist nicht wertend, nur beobachtend.
Das ist der Charme, der Newtons Werke auszeichnet. Natürlich werden die Leser:innen der italienischen Männer-Vogue nicht zuerst den Trenchcoat wahrnehmen, aber sie lesen das Bild in einer beabsichtigten Reihenfolge, und durch die ganz am Ende erfolgte Entdeckung des Mantels als eigentlichem Bildthema wirkt er umso interessanter.
Die Geschichte in seinen Bildern
Als Betrachter:innen müssen wir die Bilder Newtons selbst zu Ende denken, erst in unserer Rezeption vollendet sich sein Werk. Jede seiner Arbeiten ist gezeichnet durch ein brillantes Storytelling, das stets von der Imagination des Publikums Gebrauch macht. Den Betrachter:innen seiner Bilder stellt sich also fortlaufend die Frage, wie sie Motiv, Ausschnitt und Perspektive seiner bildlichen Narrationen in Beziehung setzen, um damit die Geschichte packen zu können.
Obwohl die Arbeiten schon Jahrzehnte alt sind, haben sie ihre Wirkung beibehalten. Sie rufen ein Gefühl von Hochachtung und Bewunderung für den Fotografen und Künstler herbei, der letztes Jahr seinen hundertsten Geburtstag gefeiert hätte.
Corona-bedingt feiert das Museum für Fotografie in Berlin nun seinen 101. Geburtstag mit einer großen Retrospektive. Matthias Harder, Leiter der Helmut Newton Stiftung, präsentiert in rund 300 Werken den einzigartigen Stil des Fotografen. Dabei wird ein Drittel der gezeigten Fotografien zum ersten Mal ausgestellt. Die Schau ist chronologisch aufgebaut, was sich ausgezeichnet dafür eignet, die Veränderung des Stils der damaligen Modefotografie und dabei auch den Wandel von Newtons Ausdrucksweise zu veranschaulichen.
Tiefe und Emotion
Die Räume sind nach Jahrzehnten geordnet, betont durch eine je eigene farbliche Wandgestaltung. Sie beginnen mit frühen Arbeiten aus den 1920er Jahren, aus der Zeit seiner Ausbildung bei der damals berühmten Berliner Modefotografin Yva, setzen nach der Emigration nach Australien dann mit seiner Rückkehr nach Europa in den 1960er Jahren ein und gehen bis in die 90er Jahre. Aufgrund eines Herzinfarkts verunglückte Newton 2004 in Los Angeles am Steuer seines Cadillacs.
„Helmut Newton. Legacy“ läuft bis 22. Mai, Museum für Fotografie, Berlin. Katalog (Taschen Verlag) 80 Euro
In Glaskästen stellt Harder die Magazine aus, in denen Newtons Fotografien erschienen sind, aber auch Kontaktbögen, die vom Fotografen selbst beschriftet und beschnitten sind. Dadurch entsteht ein außergewöhnlicher Einblick in die Genese der Arbeiten Newtons.
Die damals von ihm selbst erstellten Vintage Prints sind durch Passepartout-Umrahmung gekennzeichnet, während die später durch das Museum abgezogenen Werke einfach gerahmt sind. Die Zusammenstellung der Fotografien bringt die Ausdruckstärke, Tiefe und Emotion in Helmut Newtons Aufnahmen ohne Umschweife zur Geltung.
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