Helmut-Höge-Preisung: Die Wahrheit halluzinieren

In Bewegung bleiben, weggehen und hundert Blumen wuchern lassen. So was wie ein Interview mit Helmut Höge.

Helmut Höge in den Achtzigern. Bild: Christian Schulz

Wenn intelligente Menschen miteinander reden, dann zählen Empathie und Sensibilität für Gestik, Mimik und Sound, und wenn es kontrovers zugeht, dann vertraut man auf das bessere Argument, durch das sich der andere vielleicht verführen lässt, weil es so schön, elegant oder auch nur plausibel ist, oder man freut sich über einen gewagten Gedanken. Meinungen dagegen kann man haben oder auch nicht, verführerisch ist an ihnen nichts. Sie machen sich wichtig und blockieren den Raum der kollektiven Intelligenz, der sich zwischen den Leuten aufspannt, indem sie jeden Versuch, sich sinnierend in andere hineinzuversetzen, jede tastende Überlegung schon von vornherein unterbinden.

Helmut Höge ist kein meinungsstarker Journalist, und das ist das Begeisternde an ihm, er ist ein schreibendes Wesen, das sehen, hören, riechen, schmecken, tasten und mit Leuten reden kann, von denen es etwas erfährt, was es dann niederschreibt bzw. „aufschreibt“, was auch so ein tolles Journalistenwort wie meinungsstark ist, auf das mich letztens Ronald Düker aufmerksam gemacht hat: „Das muss mal jemand aufschreiben!“ Beim Aufschreiben bleibt es nicht, wenn Höge schreibt, die unvoreingenommene Wachheit für die Dinge in der Welt ist ja eine Selbstverständlichkeit, während Helmut Höge darüber hinaus lesen und denken kann, diese Lektüren und Gedanken fließen dann wieder in seine Texte hinein, die deswegen auf sehr eigentümliche Art und Weise vor sich hin mäandern oder, wenn man es theoretisch haben will, rhizomatisch vor sich hin wuchern.

Bei Helmut ist die Empathie vielleicht das Wichtigste, und wenn sie wirklich da war beim Schreiben, dann stellte sich oft nachher heraus, dass etwas, das er sich „bloß“ ausgedacht hatte, sich genauso zugetragen hatte. „Das ist 18 Mal passiert“, sagt er. Der Fake ist aus dieser Perspektive oft wahrer als viele andere Texte, die sich ans journalistische Handbuch halten. „Wer recherchieren muss, ist nur zu blöd zum Schreiben“, zitiert Helmut den Satz, den Klaus Nothnagel hinter seinen Schreibtisch in der taz gepinnt hatte. „Wir sagten dazu auch ’die Wahrheit halluzinieren‘, deswegen auch das Haschischrauchen, denn irgendwie muss man sich ja in Bewegung setzen.“

Irgendwann wurden die vielen Fakes, die Helmut und andere schrieben, darunter Interviews mit Inge Viett, Woody Allen, Thomas Pynchon, auf die Wahrheit-Seite verbannt, Sieg der Kräfte des professionellen Journalismus in der taz. Das Pynchon-"Interview", das als Fließtext im Gewand einer Erzählung daherkommt, fängt mit dem Satz an: „Interview ist zu viel gesagt, oder zu wenig.“

Necrophiliacs Liberation Front

Aber zur taz musste es erst mal kommen. Dorothee aus Paris hatte Helmut zum Tunix-Kongress nach Westberlin eingeladen, weil es da auch um die Möglichkeit einer neuen Zeitung gehen sollte, was er skeptisch aufnahm, weil es ihm medienpolitisch falsch erschien, den neuen Stadtzeitungen mit einer überregionalen linken Zeitung das Wasser abzugraben, weswegen er erst 1984 vom Vogelsberg nach Berlin zog, nach einer Schamfrist, wie er sagt. Der Bauer, bei dem Helmut zu Tunix-Zeiten arbeitete, finanzierte seinen „Zwischenruf“, ein Flugblatt, das er in einer Auflage von 1.000 Stück drucken ließ, was ihm viel zu viel zu sein schien, bis er tatsächlich mit seinem Zwischenruf bei Tunix auflief und merkte, dass er in den Massen versickerte. Er muss trotzdem jemandem aufgefallen sein, weil Hans Peter Duerr den „Zwischenruf“ in der fünften Ausgabe von Unter dem Pflaster liegt der Strand druckte, versehen mit einem „Nachruf“. Der vollständige Titel des Flugblatts lautete „Zwischenruf der Gruppe Necrophiliacs Liberation Front (eine Insel) und der Redaktion der Zeitschrift ’Neues Lotes Folum’ (noch ne Insel)“, und er ging umstandslos in ein Gedicht beziehungsweise eine dritte Insel von Thomas Brasch über:

Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber

wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber

die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber

die ich kenne, will ich nicht mehr sehen, aber

wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber

wo ich sterbe, da will ich nicht hin:

Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.

Tunix stand unter dem Motto der Bremer Stadtmusikanten: „Etwas Besseres als den Tod finden wir überall.“ Der Entwurf des „Aufrufs zur Reise nach Tunix“ stammte von Stefan König: „Uns langt’s jetzt hier! – Der Winter ist uns zu trist, der Frühling zu verseucht und im Sommer ersticken wir hier. Uns stinkt schon lange der Mief aus den Amtsstuben, den Reaktoren und Fabriken, von den Stadtautobahnen. Die Maulkörbe schmecken uns nicht mehr und auch nicht mehr die plastikverschnürte Wurst. Das Bier ist uns zu schal und auch die spießige Moral. Wir woll’n nicht mehr immer dieselbe Arbeit tun, immer die gleichen Gesichter zieh’n. Sie haben uns genug kommandiert, die Gedanken kontrolliert, die Ideen, die Wohnung, die Pässe, die Fresse poliert. Wir lassen uns nicht mehr einmachen und kleinmachen und gleichmachen. Wir hauen alle ab – zum Strand von Tunix.“

Linker Journalismus, ein elender Job

Michael Sontheimer schrieb später, die Einschätzung, dass ihr Sponti-Aufbruch zu einem langen Marsch zurück in die Gesellschaft werden würde, habe er in den Tagen von Tunix wütend dementiert. Dem stimmt Helmut uneingeschränkt zu. Allerdings war er schon damals skeptisch, wie die Idee der Gründung von alternativen Betrieben und Medien wohl mit der Burroughsianischen, von Deleuze aufgenommenen Idee des Verschwindens, also Abhauens in Einklang zu bringen wäre, wie man im Zwischenruf nachlesen kann:

In der Lila Eule – mit dem Blick auf die in der Mitte des Raums Tanzenden – kommen die Ideen langsam, wenn auch wieder viel zu schnell. Was können wir überhaupt noch einbringen – außer unsrer schieren Anwesenheit – mitbringen in dieses Treffen, in dieses Wirr-Warr? Wir sind so weit abgewesen vom Zentrum, die letzten paar Jahre, seitdem es kein Zentrum mehr gibt – zum Glück. Mit der Diskussion linker Projekte hält sich der Zwischenrufer Höge dann nicht lange auf:

Was halten wir davon?

Linke Tageszeitung – (Linker Journalismus, ein elender Job)

Universitäre Strategien – (Einmal muss doch damit Schluss sein, immer mehr Scheinprobleme)

Anti-Psychiatrie – (Drinnen, das ist wie draußen, nur anti)

Alternative Bildungsmodelle – (Keine Modelle mehr. Bitte. Und erst recht keine Pädagogen mehr)

Bürgerinitiativen gegen AKWs – (Müssen wir uns wirklich in jeden Aufruhr reindrängeln?)

Landkommunen – (Gesunde Lebensmittel und Technologien und ungesunde Zwischenmenschlichkeiten)

Mediengruppen – (Man kann zwar mit einer Kamera eine ganze Stadt in Schach halten, aber nur solange der Film läuft) etc.

Man werde zumindest höflich zuhören, schreibt er weiter, wenn all diese Projekte vorgestellt würden und es dann um die Strategien der Macht gehen werde, man werde auch die endlosen Debatten über das Wohin ertragen und für einen Moment vergessen, dass es doch darum gehe, ein Kleinwerden zu schaffen, das Weggehen zu organisieren, auf einer Fluchtlinie abzuschwirren. Höge erzählt über seine Wanderung mit Pferd nach Italien, um das „Land der Henker“ zu verlassen, die sich, wie er in den Dörfern erfährt, vorstellen, die Verdächtigen zu fesseln und auf die Autobahn zu legen, es ist ja der deutsche Herbst. Sein Zwischenruf zielte aber vor allem auf eines ab: „Wichtig erscheint mir allein, dass Worte wie ’Abhauen‘, ’auf den Koffern sitzen‘ und ’Fluchtlinie‘ nicht mehr länger Metaphern fürs ’Dableiben‘ sind.“ Stattdessen solle man einen kleinen Feld-Zug organisieren, „der hinter sich eine Leer-Stelle nach der anderen aufreißt, in die die Gegner wie verrückt reinschlagen“. Und irgendwann könne man ja auch einfach wieder umkehren. Später interessierte sich Helmut Höge dann doch für Genossenschaften, schrieb sein Hauptwerk "Berliner Ökonomie" mit dem grandiosen Untertitel "Prols und Contras" und brachte die Betriebsratszeitung von Narva heraus, die der taz beigelegt wurde.

Will jeder was Extras ham

Dass Alternativbetriebe eine ganz vehemente Form des Dableibens darstellten, konnte man bald nach Tunix besichtigen, und dass diesem Dableiben auch etwas Ungutes anhaftete, konnte man noch bis vor Kurzem dem Logo des Original-Müslis von Rapunzel aus Augsburg ablesen (inzwischen ist es zu geschichtsloser Harmlosigkeit reformiert beziehungsweise rebranded worden). Unter dem verschnörkelten Rapunzel-Schriftzug sind ein junger Bursche und eine junge Maid in traditioneller, einfacher Bauerntracht abgebildet. Sie schaut züchtig zu Boden und er schaut zu ihr hinüber, die Linke in der Hosentasche, in der Rechten die Pfeife. Darunter das Motto: „Leut, halt’s zsamm! Will a jeder was Extras ham, nutzt’s blos dem Feind, drum, Leut, halt’s zsamm.“ Man soll in Bewegung bleiben, dachte Helmut, und nicht das 12. Buchladenkollektiv in der Oranienstraße gründen.

Man kann sich Helmut Höge nicht als Mitglied eines Politbüros vorstellen, weil er immer aus dem Bild rückt, an den Rand, indem er sich eine Gestalt erschaffen hat, die den Blick defokussiert, zerstreut und schweifen lässt und so eine Produktivität entfesselt, weil Unmengen Energie freigesetzt werden, wenn die Dinge nicht zusammengehalten werden müssen, wenn es nicht um die Akkumulation von Kapital geht. Die Glühbirne, das wissen wir von Pynchon, und Helmut Höge hat sich seit „Gravity’s Rainbow“ immer wieder damit beschäftigt, auch das ist so eine Geschichte, die sich als wahr herausgestellt hat, würde ewig brennen, stünde das Interesse an Rendite nicht dagegen.

Ein wunderbarer Ort

Helmut Höge sitzt an seinem Schreibtisch an einer Schwelle, dort, wo das festgefügte, wohl organisierte Reich der Kultur grade noch in Rufweite, die queere Zone des taz.plans schon durchquert ist und die jugendliche Unbekümmertheit der taz zwei noch nicht anfängt. Der Ort, an welchem der wirklich existierende, rauchende, kiffende und dabei denkende, sprechende und schreibende Helmut Höge sitzt, in seinem Anzug, im Hemd, aber nie mit Krawatte, dieser Ort ist einer, der außerhalb der Markierungen, Hierarchien und daher auch Redundanzen der sogenannten Ressorts liegt, die sich wie alle Institutionen bald mehr für die eigene Reproduktion als für sonst was interessierten, wenn es nicht Leute gäbe, denen das einfach zu langweilig ist.

Dieser Höge’sche Schreibtisch ist ein wunderbarer Ort, den manche gar nicht sehen können, für die ist er quasi Luft, während er für andere ein beispielhafter Ort ist, eine exterritoriale, unkartografierte Insel Utopia, auf der man auch mal sein möchte. Nicht allzu lange allerdings, weil man sich nur schwer vorstellen kann, dass man mutig genug wäre, es dort so lange wie Helmut Höge auszuhalten.

Der letzte Unterschied

Eben dafür hat Helmut Höge jetzt wohl den Ben-Witter-Preis bekommen, der gestiftet wurde, als man feststellte, dass dieser große Journalist, der sich doch nur in der Welt herumgetrieben zu haben schien, tatsächlich Geld besessen hatte, so zumindest wird es erzählt, und das klingt so gut, dass man es sich auch nicht kaputtrecherchieren will. Seit 1995 hat die Jury diesen Preis immer wieder an AutorInnen der taz vergeben, und zwar vorzugsweise an die anarchistischen SchreiberInnen, die allein durch die Kraft ihrer Texte den Konsens des kleinsten gemeinsamen Nenners, der sich in jeder Organisation nach Sekunden bildet, zum Explodieren bringen, weshalb sie stören und entweder ausgeschlossen oder als randständige, kuriose und eben deswegen auch irgendwie imagefördernde Typen getagged werden müssen, die einen letzten Unterschied zu den anderen seriösen Zeitungen markieren. Die Jury des Ben-Witter-Preises hat in ihrer Begründung einen Satz benutzt, den man schon kennt: „Helmut Höge gilt als Miterfinder der Endlosrecherche, die sich von Redaktionsschlüssen und Erscheinungsterminen unabhängig gemacht hat.“

Abends mit Texy im Bett

Helmut Höge kann mühelos ganze Seiten füllen, was vielleicht auch daran liegt, dass er irgendwann ganze Seiten füllen musste, sechs in der Woche, jeden Tag eine, seit ihm Gerd Nowakowski in den Achtzigern die letzte Seite des Berlinteils für Atmosphärisches aus der Stadt übertrug. Das hat ihn allerdings bald mürbe gemacht. Erstens war er zu ehrgeizig, sagt er, zweitens war er damals oft tagsüber in der Stadt unterwegs, um erst mal Butter bei die Fische zu kriegen, irgendwo müssen die Texte ja herkommen. Dann saßen Sabine Vogel und er abends im Bett mit ihren Texys, das sind die mobilen elektronischen Schreibgeräte, die in der Anfangszeit der taz benutzt wurden, und füllten die Seite. (Es war jene Sabine Vogel, die gehen musste, weil sie den Text von Thomas Kapielski druckte, in dem das Wort "gaskammervoll" vorkam. Kapielski hat auch den Ben-Witter-Preis bekommen. Sabine Vogel und Gabriele Riedle hatten sich auf Höges Seite gestellt, als der zum Internationalen Frauentag 1988 eine quasipornografische Seite gemacht hatte, auf der sein Text „Der Fotofix-Fick“ erschien. Ein Kollege sagt, der größte Höge-Text aller Zeiten sei der über das gemütliche Landbordell.)

Der Text ist bei Helmut Höge immer in Bewegung, findet nie ein Ende, ist nicht rigide, sondern im Fluss, was sich in den Bewegungen des Autors durch die Welt abbildet. Man hat das Gefühl, dass Helmut nie zu Hause, sondern immer woanders ist. Er arbeitete auf Bauernhöfen, um von den Bauern zu lernen, sagt er, und dann davon träumen zu können, wie eine andere, bessere Landwirtschaft aussähe. Er studierte in Paris, wo seine Tante lebte, die nach dem Krieg einen ehemaligen Zwangsarbeiter geheiratet hatte, sein Vater gab ihm 300 Mark im Monat, wofür er sich aber nicht rechtfertigen musste, wie die vielen jungen Amerikaner, die dort pro forma studierten, was Helmuts Dozenten Rene Scherer und Guy Hocquenghen zu ihrer Lehrveranstaltung „Seminaire sur les mots ’Too much‘ et ’Good Vibrations‘“ inspirierte.

Die soziale Revolution ist keine Parteisache

Helmut schrieb für Zeitschriften wie Ulcus Molle, Hundert Blumen (inspiriert nicht direkt von Mao, sondern den 100 Flowers der Radikalen aus Berkeley, Auflage 6.000 Stück) und Die soziale Revolution ist keine Parteisache. Hundert Blumen wurde in Berlin in zehn Kneipen verkauft, das war schon der größere Radius, weil die Leute vom SDS in genau zwei Kneipen saßen. Es war die Zeit der Befreiungsbewegungen, Black Liberation, Indian Liberation, Gay Liberation und so weiter, das von Lyotard konstatierte Patchwork der Minderheiten, was gut war, meint Helmut, aber eben auch Anlass für Parodien wie die der Necrophiliacs Liberation Front gab.

Eine Zeit lang wohnte er in einem besetzten Haus in Frankfurt, arbeitete in der Karl-Marx-Buchhandlung und schrieb für den Pflasterstrand. Der Geschäftsführer von beiden war Daniel Cohn-Bendit, was man auch sofort wieder vergessen kann, weil es eigentlich nichts zur Sache tut, sagt Helmut, aber natürlich was über die Zeit erzählt. In Oldenburg war Helmut Tutor, hatte aber keine Lust mehr, weil alle Mittutoren bloß karrieristisch darum bemüht waren, auch das zweite Bein noch über die Schwelle zu bekommen. In Berlin gründeten Höge und seine Zeitschriftenmacherkollegen zusammen mit Ton Steine Scherben eine Organisation für nichtkommerzielle Rockgruppen. Wenn man „Jenseits von Eden“ hört, kann man sich sehr gut Helmut dazu vorstellen: Ich will nicht, dass du in Schwarz gehst, weil ich tot bin, du warst auf der Suche, ich war auf der Flucht. Hat er früher getanzt? Er war doch auch bei den MC5 in der TU-Mensa gewesen. Sein Schreibtisch ist grade leer, man kann ihn nicht fragen, das muss bis nächste Woche warten.

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