Mit dem Blick einer Adlerin

Ihre Fotografien zeigen den grauen, ungeschönten Alltag Ostberlins. Am Montag verstarb Helga Paris mit 85 Jahren in ihrer Wohnung in Prenzlauer Berg

Helga Paris, 2016 Foto: imago

Von Annett Gröschner

Es gibt ein Foto von Helga Paris aus den siebziger Jahren: Die Winsstraße in Prenzlauer Berg, alte Leute über breite Wege aus Granitsteinen schlurfend, die man hier Schweinebäuche nennt, am Straßenrand vereinzelte Autos, die Fassaden der Gründerzeithäuser grau, grau der Himmel, die Mäntel der Leute, die Straßenschilder. Obwohl das Licht von Süden kommt, hängt ein Nebel über der Straße, der frösteln lässt. So ist es immer gewesen zwischen Oktober und April. Der Geruch aus Kohle, Zweitaktgemisch, Pisse, Gas und abgestandenem Wasser. Im Winter froren die Toiletten ein, und wenn man versuchte, die Wäsche draußen zu trocknen, legte sich der Ruß und Staub der Kohleöfen und des am Ende der Straße gelegenen Gaswerks in feinen Partikeln auf das Gewebe. Etwas Lebendiges, Unverwechselbares aber gibt es auf dem Foto: eine Taube mit weit ausgebreiteten Flügeln, grau wie alles andere, aber im Anflug.

Helga Paris hat die Winsstraße häufig fotografiert, sie hat mehr als ein halbes Jahrhundert in dieser Straße gewohnt, in derselben Wohnung, in DDR und BRD. Im Jahr 1966 war sie mit ihrem Mann, dem Maler Ronald Paris, und den Kindern Robert und Jenny eingezogen. Kurz zuvor hatte sie angefangen zu fotografieren. Erst die Kinder, dann die Nachbarn. Ronald Paris zog irgendwann aus, die Wohnung blieb ein Treffpunkt für Künstlerinnen und Künstler, ob es nun Schreibende, Malende, Fotografierende waren. Zu ihrer eigenen Generation gesellte sich später die Generation der Kinder.

Die Bewohnerschaft der Winsstraße war damals noch proletarisch-kleinbürgerlich, es gab nur wenige Intellektuelle, die eher argwöhnisch betrachtet wurden. Einer ihrer Nachbarn, der Regisseur Peter Kahane, hat 2019 beschrieben, wie Helga Paris diese Grenzen einriss: „Sie war neugierig auf ihre Nachbarschaft, sprach mit allen und fotografierte alle. Jedenfalls alle, die sie mochte: die Familie des Müllmannes Köstner, ‚Frau Fröhlich‘, die an der Ecke Christburger die Kneipe Frau Fröhlich führte, und natürlich auch die freundliche Nachbarin, die um ein Beweisfoto bat, als sie von ihrem ersten Ehemann verprügelt worden war. Die Mieter im Haus und die Leute in der Winsstraße waren also die ersten Models von Helga. Die erste Station ihrer Karriere, die Heimatstation.“

Die zwei Wochen vor Helga Paris verstorbene Dichterin Elke Erb hat ihr Verhältnis zu dem Prenzlauer Berg der 1970er Jahre mal so beschrieben: „Ich hab nicht das Gefühl gehabt, daß ich im lebenden Ding bin, im Gegenteil, ich weiß noch ganz genau, wie furchtbar mir die Kneipen vorkamen, und erst auf den Fotos von Helga Paris hab ich gesehen, da ist Leben.“ Bald zog Helga Paris konzentrische Kreise um ihre Straße, fotografierte die Näherinnen vom VEB Treffmodelle um die Ecke, auf dem Leipziger Hauptbahnhof, in Halle an der Saale (Ausstellung und Buch wurden verboten), in Rumänien und Georgien und nach der Wende die harten Jungs aus dem Bahnhofsviertel von Rom. Sie konnte von entwaffnender Freundlichkeit sein.

Helga Paris’fotografische Porträts zeigen nicht nur die abgebildete Person, in deren Blicken spiegelt auch sie sich. Man sieht in den Augen der Fotografierten Vertrautheit, nie Hochmütigkeit oder Herablassung, Helga Paris hat die Kraft, die sie hatte, nie als Macht missbraucht. Niemand wurde aufgefordert, doch mal zu lachen. „Wiegenehrlichkeit“ hat Elke Erb das genannt. Wer Helga Paris bei der Arbeit beobachtete, sah eine schmale Frau mit fließenden Bewegungen, die an die einer Tänzerin erinnerten. Mit dem gelassenen Blick einer Adlerin, die in Ruhe ihre Kreise zieht, vorsichtig die Kamera nimmt, fokussiert und den Auslöser drückt. Es sah ganz leicht aus. Danach kam die Arbeit in der Dunkelkammer.

Die Kneipen verschwanden, die Nachbarn zogen aus oder starben, neue kamen. Irgendwann hat Helga Paris aufgehört zu fotografieren, der Reiz war weg, sie ordnete ihr Archiv und ging in Rente. Bis zuletzt sah man Helga Paris in ihrer Straße in der Sonne sitzen.

Im Jahr 2019 gab es eine große Ausstellung ihrer Bilder in der Akademie der Künste am Pariser Platz. Ein später Erfolg, den sie genoss. Es kam viel Publikum, darunter auch die eine oder andere frühe Nachbarin. Am Montag ist Helga Paris in ihrer Wohnung in der Berliner Winsstraße verstorben.