: Heimliches und unheimliches Sehen
BEOBACHTETER BEOBACHTER Eine Ausstellung in der Londoner Tate Modern über Fotografie, Voyeurismus und unerlaubtes Beobachten
VON JULIA GROSSE
Manche Ausstellungstitel sollten einfach nicht mehr erlaubt sein. Sie sind zu abgenutzt. Meisterwerke der Moderne. Surrealismus und Wahnsinn. Picasso und seine Zeit, Edward Hopper und seine Zeit. Und natürlich fällt auch alles, was „Voyeurismus“ im Titel trägt, darunter.
Entsprechend vorbelastet betritt man die Ausstellung „Exposed: Voyeurism, Surveillance & the Camera“ in der Tate Modern. Doch sofort wird man durch einen schlau inszenierten Effekt überrascht. In den großformatigen, dunklen Porträtfotografien, die Philip-Lorca diCorcia unbemerkt von Menschen auf den Straßen New Yorks aufnahm, erkennt man den eigenen Umriss. Wie in einem riesigen Spiegel wird der Besucher selbst zum ausgestellten Motiv, von anderen Besuchern in der Reflexion betrachtet. Die subtile, völlig unpathetische Interaktion taucht am Ende der Schau wie eine Art Klammer noch einmal auf. Dann ist eine Filmsequenz von Thomas Demand zu sehen, die eine Überwachungskamera zeigt, die langsam hin und her schwenkt als würde sie den Tate-Besucher beim Verlassen der Räume verfolgen. – In einem Überwachungsparadies wie dem Vereinten Königreich mit um die 4,2 Millionen Kameras hält sich das intendierte Gefühl des Unbehagens allerdings in Grenzen.
Beginnend mit historischen Aufnahmen, für deren heimliche Durchführung sich die Fotografen noch fantasievolle Gerätschaften und Attrappen ausdachten, arbeitet sich die Ausstellung zunächst wenig überraschend, doch gründlich recherchiert in ihrem Themenfeld vor. Alle wichtigen Klassiker der Nachkriegszeit sind dabei, etwa Lee Friedlanders legendäre, nach wie vor bedrohlich wirkende Aufnahme einer blonden Dame mit Pelzkragen (1966), auf deren Rücken sich Friedlanders Schatten wie ein böser Schauder legt.
Spannend ist der Bereich, der die Fotografie in der Rolle der Erfinderin der modernen Celebrity-Kultur sieht. Die Berühmtheit sitzt nicht mehr über Wochen für das perfekte Ölporträt, sondern wird plötzlich durch die Linse von ihrer durchschnittlichen, verletzlichen Seite eingefangen. Der Amerikaner Weegee, im Grunde der Vorläufer des unerschrockenen Paparazzos, lugt der Monroe von oben ins offenherzige Dekolleté. Liz Taylor und Richard Burton liegen knutschend auf ihren Sonnenliegen, schnell und heimlich von Marcello Geppetti abgeschossen. Die Aufnahmen der beiden sind wie eine mehrteilige Schwarz-Weiß-Film-Sequenz präsentiert. Die Grobkörnigkeit scheint das Bedrohliche durch das unerlaubte Beobachten dieser Szene noch zu unterstreichen.
Den kategorischen Bereich über den verbotenen, provozierenden Blick der Fotografie in sexuell aufgeladene Situationen will man beim Entdecken der üblichen Verdächtigen Mapplethorpe, Newton und Co. gleich wieder verlassen. Doch der Ausstellung gelingt es mit überraschenden Positionen dann doch, die erzählerische Kraft der Fotografie zu betonen, gegen die gewohnte Stereotypisierung der Linse als phallischer Blick. In einer Serie fotografierte Merry Alpern über Monate aus der Wohnung einer Freundin in das Badezimmer eines benachbarten Bordells. Das, was sie dort zu sehen bekam, war ein realer Einblick in das, was man klischeehaft als „Drogen- und Sexexzesse“ bezeichnet und kaum je zu sehen bekommt. Viel faszinierender als die Bilder selbst ist jedoch das Getriebensein der Fotografin: Alpern musste durch einen Luftschacht gehen, um in das fremde Badezimmer fotografieren zu können, und so befand sie sich plötzlich selbst in einer undefinierten Position von Voyeurismus und kriminalistischer Gründlichkeit.
Der japanische Fotograf Kohei Yoshiyuki ging noch einen Schritt weiter, denn er ist nicht mehr nur Beobachter, sondern vielmehr der Beobachter der Beobachter. Mit speziellem Film nahm Yoshiyuki in den siebziger Jahren in den Parks von Tokio Menschen bei ihren nächtlichen sexuellen Begegnungen auf. Durch den sensiblen Film sehen die Haut, die Augen und Kleider der Anonymen fast geisterhaft, körperlos aus. In diesen irritierenden Szenen sind nicht nur die sich liebenden Paare zu sehen, sondern auch oft noch mehrere Männer, die um sie herumhocken. Sie sitzen allerdings so dicht am Geschehen, dass sie jegliche Distanz, die der Voyeur ja gerne wahrt, auf bedrohliche Weise durchbrechen. Mit Kohei Yoshiyuki wirft die Ausstellung zum Thema Voyeurismus einen wichtigen Blick über den Tellerrand der westlichen kulturellen Produktion.
Yoshiyukis Fotografien markieren den Übergang in den kleinen, dabei interessantesten Bereich der Ausstellung zu Fotografie und Gewalt. Hier bekommt das Reale, das die Kamera bewahrt hat, fast fiktive Züge. So hielt Enrique Metinides den Selbstmordversuch eines Mannes fest, der in Mexiko auf einem Stadiongerüst steht und von zwei seitlich näher kommenden Helfern gerettet wird. Das Bild der Helfer, die auf dem architektonisch reizvollen Gerüst des Stadions vorsichtig zu dem Lebensmüden balancieren, hat fast performative Züge. Brassaï fotografierte 1932 eine Straßenszene wie einen tragischen Kurzfilm über das Leben. Ein Mann liegt reglos auf dem Boden, sein Hut, wie gerade erst vom Kopf gefallen, neben ihm. Die subtile Dramatik der Szenerie steigert sich mit jedem weiteren Foto und dem Zunehmen der Menschenmassen, die sich um den Toten scharen. Als auf einem der Fotos der Krankenwagen kommt, scheint die Szene auf ihrem emotionalen Höhepunkt zu sein. Das letzte Bild wirkt wie das Ende eines konstruierten Kurzfilms: Brassaï fotografiert die Straße, nun völlig menschenleer. Zwar ist das Geschehene wirklich passiert, doch kann man davon ausgehen, dass Brassaï diesen letzten Moment bedrückender Leere zu dieser Serie hinzufügte wie ein künstlerisches Element, um diese kurze Geschichte vom Tod zu Ende zu erzählen.
■ Bis 3. Oktober, Tate Modern, London