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Heilen in seiner ursrpünglichen BedeutungVon Brüchen und Menschen

Die Medizin neigt dazu, Krankheit abzuspalten. Die "Medical Humanities" fokusieren sich dagegen nicht auf die Krankheit und ihre Beseitigung, sondern auf das Leid und seine Heilung

Medical Humanities: Gebrochenes wieder ganzmachen Bild: dpa

Viele Kranke bejammern die eingeschränkte Perspektive, mit der sie im modernen Medizinbetrieb wahrgenommen werden. Was fehlt, ist der Blick auf die Person. Der schadhafte Körper wird getestet und vermessen, subjektives Leiden und Krankengeschichte bleiben hingegen weitgehend ausgespart. Der kranke Mensch verschwindet hinter einer Armada von diagnostischen Geräten.

Natürlich ist das eine vereinfachende Beschreibung der Realität. Die medizinische Praxis ist nicht nur von Technikern und Mechanikern bevölkert. Dennoch steckt in der Zuspitzung des Problems eine wichtige Einsicht. Die Medizin kann nur dort zu therapeutischen Erfolgen führen, wo sie sich neben wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Funktionsweise des Körpers offen zeigt für weitere Blickwinkel: Perspektiven, die kulturelle und religiöse Kontexte, subjektive Vorstellungen des Wohlergehens, persönliche Lebensgeschichten und individuelle Werturteile bereitstellen.

Das Ziel der Gesundheitsfürsorge besteht nicht nur, und womöglich nicht einmal in erster Linie, in der Beseitigung einer Krankheit, sondern in der Linderung einer bestimmten Form von Leid. Krankheit geht zwar häufig mit Leid einher, aber sie muss nicht der einzige Grund des Unwohlseins sein. Der eingeschränkte Blick nur auf die Krankheit und die damit einhergehende Motivation, diese zu beseitigen, führt zu einer Abspaltung des Patienten von seiner Krankheit. Das Kranksein wird umgemodelt, man spricht nicht mehr davon, krank zu sein, sondern davon, "eine Krankheit zu haben".

Insbesondere Ärzten fällt es häufig schwer, sich einzugestehen, dass ihre Fähigkeiten eingeschränkt sind und sie ihr Ziel, das Kurieren einer Krankheit, nicht immer erreichen können. Statt dies als persönliche Niederlage zu sehen, wäre es wichtig zu begreifen, dass dieser auf Reparatur zielende Ansatz von vornherein unvollständig ist. Die Beseitigung von Krankheit führt nicht automatisch zu Leidfreiheit, schließlich verursachen medizinische Eingriffe häufig selbst Leid.

Ein anderer Ansatz stellt hingegen den Begriff des Heilens in seiner ursprünglichen Bedeutung des "Ganzmachens" in den Mittelpunkt medizinischen Handelns. In dieser Perspektive werden andere Elemente als die mit Krankheit einhergehenden körperlichen oder psychischen Dysfunktionen betont. Vielmehr geht es nun darum, die kranke Person mit all ihren Erfahrungen, Lebensverhältnissen und Wertvorstellungen in den Blick zu bekommen. Heilen in diesem Sinne heißt, den Patienten in allen Facetten seines Daseins wahrzunehmen. Der Erfolg besteht in der Linderung von Leid, dem Heilen, was nicht unbedingt mit der Beseitigung der Krankheit, dem Kurieren, einhergehen muss. Eine Krankheit kann möglicherweise so in das Selbstbild eines Patienten überführt werden, dass sie nicht mehr als Bedrohung und Feind gesehen wird, sondern als akzeptiertes Element des eigenen Lebens.

Diese Ausweitung des medizinischen Blicks auf vermeintlich nichtmedizinische, in Wirklichkeit aber essenzielle Aspekte des Krankseins erfordert eine Erweiterung der medizinischen Ausbildung durch human- und geisteswissenschaftliche Perspektiven. An dieser Stelle kommen die "Medical Humanities" zu ihrem Recht. Es existiert keine griffige Definition dieser Disziplin, auch kein geeigneter deutscher Name. Auch die beteiligten akademischen Fächer bilden kein streng eingegrenztes Gebiet. Doch scheint dieser offene Zugang kein Nachteil, sind die "Medical Humanities" doch nach wie vor in der Konsolidierung begriffen.

Paradigmatisch für die Möglichkeiten der Geisteswissenschaften in Bezug auf die Medizin kann die Idee eines Patientennarrativs genannt werden. Krankheit wird von Patienten häufig als Unterbrechung ihres gelebten Lebens, ihrer Geschichte verstanden. Michael Bury sprach in diesem Zusammenhang in den frühen Achtzigerjahren von einem biografischen Bruch. Wir kennen solche Brüche aus Romanen wie beispielsweise "Der Tod des Iwan Iljitsch" von Leo Tolstoi und Oliver Sacks Erzählungen über die biografischen Risse, die neurologische Erkrankungen verursachen können. Krankheiten bieten so verstanden aber auch Anlass, sich von außen zu betrachten und die mehr oder weniger unreflektiert ablaufende Geschichte seiner selbst in Frage zu stellen. Und Heilung kann darin bestehen, eine Krankheit in sein Leben zu integrieren, den Bruch zu kitten.

"Medical Humanities" bieten aber nicht nur einen Blick auf das gelebte Leben von Patienten, sondern reflektieren auch über kulturelle, philosophische, historische, religiöse, politische und künstlerische Aspekte der Gesundheitsfürsorge. In welcher Form beispielsweise ein Gesundheitssystem organisiert ist, ob es viele Spezialisten oder mehr Hausärzte gibt, kann große Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Arzt und Patient haben. Welche religiösen Überzeugungen Patienten hegen, hat wiederum einen Einfluss darauf, welche Pflege angemessen ist. Medizinische Leistungen, insbesondere in der Pflege - Waschen, Füttern, Ankleiden -, stellen häufig intime Eingriffe in Körper und Leben von Patienten dar. Daher benötigt ein Pflegender mehr als nur Wissen über die ordnungsgemäßen Handgriffe.

Auch philosophische Themen sind Bestandteil der "Medical Humanities". Wie etwa die Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit gezogen werden soll, ist keineswegs ein rein naturwissenschaftliches Problem, sondern birgt Fragen nach dem Status und der Herkunft von medizinischen Normen. Viele ursprünglich als normal geltende körperliche und geistige Eigenschaften werden zu Krankheiten umgedeutet, da auf diese Weise eine solidarisch finanzierte Behandlung garantiert werden kann. Ungünstigerweise besteht dabei meist eine Interessenharmonie zwischen Ärzten, Patienten und pharmazeutischer Industrie. Der Medikalisierung, wie Ivan Illich sie in den Siebzigerjahren bezeichnete, ist damit Tür und Tor geöffnet.

Zu den metaphysischen und erkenntnistheoretischen Fragen bezüglich des Krankheitsbegriffs gesellen sich ethische Fragen nach dem Inhalt menschlichen Wohls. Worin das für den Menschen Gute besteht, ist beileibe keine neue Fragestellung. Das gute Leben befindet sich seit der Antike im Zentrum philosophischer Aufmerksamkeit. Letztlich kommt auch die Verbindung solch ethischer Fragen mit der Medizin nur einer Wiederentdeckung altbekannter Ideen gleich. Die "Medical Humanities" hegen somit nicht den Anspruch, gänzlich Neues in die Welt zu tragen. Gleichwohl ist die Wiederbelebung von geisteswissenschaftlichen Traditionen in der Medizin, die im Zuge der Verwissenschaftlichung und Spezialisierung verloren gegangen waren, ihre nicht geringste Leistung.

Leider werden die Erkenntnisse der "Medical Humanities" in der Medizinerausbildung weithin vernachlässigt. Zwar werden inzwischen in Deutschland medizinethische Themen als verpflichtender Teil des Lehrplans gesehen, doch die vergleichsweise breiteren geisteswissenschaftlichen Themen spielen keine Rolle. Die Medizingeschichte wird ebenso gelehrt, fristet aber ein Nischendasein und missversteht sich zu häufig als Instanz zur Beweihräucherung "großer Ärzte". Letztlich gälte es auch hier eigentlich nur, bereits vorhandene Traditionen wiederzuentdecken. Bislang aber sind die "Medical Humanities" in Deutschland weithin unbekannt, bestenfalls eine Spielwiese für pensionierte Mediziner, die - schlimm genug - sich meist sowieso nur ihren großbürgerlichen Vorstellungen eines umfassend gebildeten Gutmenschen hingeben.

Neben den USA existiert in Großbritannien bereits seit geraumer Zeit ein Kurs für Postgraduierte, ein Master in "Medical Humanities". In der medizinischen Grundausbildung spielen allerdings erweiterte Perspektiven wie auch in Deutschland kaum eine Rolle. So bleibt es dem individuellen Interesse der medizinischen Fachleute überlassen, sich geisteswissenschaftlicher Themen in der Medizin anzunehmen. Häufig geschieht dies aufgrund frustrierender Erfahrungen mit dem auf Reparatur fokussierten Medizinbetrieb. Die Frage ist, ob nicht vielleicht die "Medical Humanities" helfen könnten, Enttäuschungen zu vermeiden, indem der medizinische Blick schon in der Ausbildung geweitet wird. Dem Patientenwohl wird es allemal zuträglich sein.

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1 Kommentar

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  • WS
    winfried schmidt

    schön, dass die taz sich dem Thema widmet. Aber ist die taz auch dem mainstream erlegen und negiert, dass es PsychologInnen und PsychotherapeutInnen gibt, na ja vielleicht besser es gibt sie noch immer- aber wie lange noch?.

    Soll dieser Artikel das Ende der Psychologie und der Psychotherapie einläuten?

    Man klebe nur vor alles das Wort ÄRZTLICH und die Welt ist anders.

    Nun von der taz hätte ich mehr erwartet, nachdem in Hamburg aber GRÜN und Schwarz sich gefunden haben- wundert mich nichts mehr!