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HeilenEin Spaziergang entlang einer verwundeten Promenade, ein halbes Jahr nach dem Lkw-Attentat von NizzaLe paradis, non?

aus Nizza Annabelle Seubert

Die Farben – les couleurs. Man kann sie schon von oben sehen, aus der Luft, im Landeanflug auf Nizza. Das Sandgelb der Hotelfassaden, Grün der Palmen. Die Schichten von Blau, die das Mittelmeer hier trägt: Hell an den flachen Stellen. Dunkel, wo die Wellen brechen.

Und in der Mitte ein Türkis, vor dem sich die Leute zu ergeben scheinen: Angler schauen zu den Booten, Spaziergänger zum Horizont. Ein Mann steigt aus dem Bus vom Flughafen und zieht seinen Rollkoffer auf die Promenade des Anglais, als sei er bloß für diese Aussicht nach Südfrankreich gereist. Er legt den Kopf in den Nacken und schirmt die Augen ab. Was jetzt?

Weißwein, ein paar Miesmuscheln?

Die Sorgen vergessen?

Den 14. Juli?

Ein halbes Jahr ist es her, dass ein Lkw über diese vierspurige Küstenstraße gerast ist, die damals größtenteils für den Verkehr gesperrt war. Tausende feierten dort den Unabhängigkeitstag und das Feuerwerk am Strand – la fête nationale. Der Fahrer steuerte den 19-Tonner im Zickzack durch die Menge, die „Bucht der Engel“ entlang, vom Kinderkrankenhaus mit den kobaltblauen Fenstern bis zum legendären Hotel Negresco, in dessen Nähe er zum Halten gezwungen wurde, erschossen von Polizisten.

Der 14. Juli 2016 brachte die Trauer nach Nizza: „Je suis Nice“-Bekundungen und das Erstarken eines in der Region, den Alpes-Maritimes, sowieso schon starken Front National. Er brachte ein zwei Kilometer langes Attentat, das der Stadt das Verheißungsvolle nehmen und die Côte d’Azur dafür leiden lassen sollte, wofür sie steht: Freiheit, Luxus. Lebenslust. Der 14. Juli brachte 86 Tote auf der Promenade des Anglais.

Laurence Rasteu, 46 Jahre.

Myriam Bellazouz, 29 Jahre.

Camille Murris, 27.

Yanis C., 4.

Im Dezember liegt der Asphalt aufgerissen da. Bauarbeiter bohren mit Presslufthammern im Mittelstreifen jenes Boulevards, den die Touristen für das Boheme lieben und Maler, Fotografen, Schriftsteller immer schon für das Licht geliebt haben. Matisse, Renoir, Yves Klein, Theodor Wolff, Lisette Model, die Manns – alle waren sie da. „Auf dieser herrlichsten Promenade der Küste, des Kontinents“, schrieben Erika und Klaus Mann. Sie wussten sonst „keine, die mit solcher Grandezza dem Meer entlangführte“ und eine solch „pathetische Lichterkurve“ zu bieten hatte. Das Licht: la lumière.

Neben dem Mittelstreifen sieht einer den Arbeitern zu. Er hat eine Marlboro im Mund und kommentiert den Lärm durch einen Lippenspalt: „Normale Straßenarbeiten“, sagt er – die Spuren des Sommers seien beseitigt. Die Stadt dagegen: traumatisiert, nach wie vor. Früher sei sie „Vergnügen“ gewesen, „fun“, „festive“, mit 1.200 Kulturveranstaltungen im Jahr. „Et maintenant?“ Er inhaliert, gibt Rauch von sich. „Non.“

„Alexandre“ stellt er sich vor, als sei dies nicht der Ort für Nachnamen. Mitte 50. Plaudert, wie sie es in Südfrankreich tun: gestenreich, schier pausenlos. Er war mit Freunden trinken, am „Bastille Day“. Ein bisschen zu viel, um noch mit seinem Rad zur Promenade zu fahren. Alexandre grinst, er imitiert sich retrospektiv beim Lenken, schaut zum Himmel und schwankt, links, rechts. Am Morgen des 15. Juli ist er aufgewacht und hat die SMS seines Sohns gelesen: „Ruf mich zurück, wenn du wach bist.“ So hat er von der Nacht erfahren. Von der Tragödie. „La tragédie.“

David Bonnet, 44.

Laura B., 13.

Silan Aydin, 20.

Elizabeth Cristina de Assis Ribeiro, 31.

„Soll ich hier weg?“, hat sich Alexandre in den folgenden Monaten gefragt, immer wieder. Er, gebürtiger Pariser, der seit 18 Jahren an der blauen Küste wohnt – und im Leben, sagt er, wirklich genug gereist ist. Seine beiden Kinder lebten zwar in Paris, Mario und Luise. Und selbst seine Frau habe er dorthin zurückgeben müssen, „shame on me“, er könne es ihr nachsehen: „Sie hat acht Bücher in der Woche gelesen und ich mag Sport, Adrenalin. Die Fischerei.“

Aber, man müsse sich vorstellen, wie das ist: Wenn die Sinne in den Genen stecken, „das Riechen und Schmecken anerzogen sind“. Wie soll einer wie er raus aus Nizza? Wo in den Vorgärten der Ferienapartments die Orangen reifen, Bougainvilleen über Zäune ragen. Wo vom Lido Plage, dem Restaurant am Wasser gegenüber, dauernd der Duft frittierter Calamari rüberzieht.

Nein, sagt Alexandre, so läuft das nicht. Die Veränderungen seien vielleicht sichtbar, „visible“, die Verängstigung spürbar, die Aggression auch. Doch wem an Nizza liege, der habe hier zu sein. Alexandre, der Große, der Fischer und Erzähler, zündet sich noch eine Marlboro an, für den Weg. „Respekt lässt sich nur aufbauen, wenn man bleibt.“

Und er? Hat er Angst?

Er hebt beide Hände und die Handflächen nach oben, Schulterzucken – was für eine Frage!

„Bien sûr!“, ruft er. Angst, natürlich. Angst, „la peur“.

Léa Mignaçabal, 68.

Françoise Hattermann, 55.

Pierre Hattermann, 56.

Elouan Hattermann, 12.

17 Grad im Schatten, die Damen tragen Pelz. Auf der Promenade wird parliert und gegrüßt, „ciao“, „benissimo“, „ça va?“. Möwen werden gefüttert, Sonnenbrillen ins Haar geschoben. Im Bellota House, einer Bar mit Außentischen, mit Fisch- und Salade-Niçoise-Resten auf den Tellern, zeigt ein Mann im Jackett rüber zum Strand, von rechts nach links – den Weg, den der Lkw-Fahrer nahm; die Frau neben ihm schlägt die Hand vor den Mund. Das Trauma in Nizza ist ohne Worte zu verstehen, man sieht es in Gesten oder, zweihundert Meter weiter, am Rondell im Jardin Albert 1er.

Dort ist die Gedenkstätte für die Verstorbenen entstanden, Kerzenwachs auf Teer geflossen. Kuscheltiere türmen sich neben Fotos, Blumen, Spielzeug, Babyschuhen. Neben Plakaten, auf denen „Be Nice to each other“ steht oder, auf einem roten Herz: „Nos enfants sont massacrées pour une guerre, Mr Le President?“

Sind unsere Kinder für einen Krieg massakriert worden, Herr Präsident?

Hinter dem Rondell sitzt ein Mann auf einem Klappstuhl, ein paarmal springt er auf und pfeift Fahrradfahrern hinterher, bittet sie, abzusteigen. „Mohamed, aus dem Sudan“, er trägt ein orangefarbenes Armband über der Jacke, auf dem „Securité“ steht. Dies sei ein bitterer Ort, um zu arbeiten, sagt er. Zehn Stunden am Tag – Blick auf die Uhr. „Heute noch vier.“

Mohamed sieht die Angehörigen kommen und weinen. Er sieht sie ihre Fassung aufgeben, gestern, heute, oder jetzt, wo ein junges Paar vor dem Plakat steht, das an „nos étoiles disparues“ erinnert, an „unsere verlorenen Sterne“. Das Mädchen legt Rosen darunter, kniet, zündet ein Teelicht an. Mohamed sagt, er sehe die Fotos der Kinder, „sechs, sieben Jahre alt“. Er sehe, wie schreckhaft die Bewohner geworden seien. „Ein Knall und die Leute zucken zusammen.“

Dass die Stadt in ständiger Bereitschaft sei, „en attente“, sagt er. In Erwartung des nächsten großen Knalls. Vielleicht habe man es in seiner Heimat, die noch nicht lange seine ist, übertrieben mit der „immigration“. „Zu viele Araber, vielleicht“, sagt er. Und ja, er sehne sich nach Überwachung, durchforsteten Handys und Facebook-Chatverläufen. „Wenn es Menschenleben schützt?“

Mino Razafitrimo, 31.

Selma, 18.

Magdalena Chrzanowska, 21.

Marzena Chrzanowska, 20.

Mitunter reden sie hier so, entlang der Promenade des Anglais, auf der die Urlauber und Eleganten wandeln und sich die Stimmungen mischen wie die Sprachen; Englisch und Russisch und Zynismus und Wut. Alle können sie in Nizza erzählen, wo sie am 14. Juli waren, kurz nach 22.30 Uhr. Pierre, 60: „Zu Hause. Zum Glück.“ Kamel Idrissi, 33: „Dort oben, auf der Aussichtsplattform. Mein Vater rief an und sagte: ,Geh nicht zur Promenade!' “ Da sah Kamel den weißen Truck schon unter sich. Wie die Leute vor ihm wegrannten, hörte ihre Schreie. Er vergisst es nicht. „Wie?“

Zahia Rahmouni, 71.

Ludovic R., 15.

Linda Casanova Siccardi, 54.

Igor Chelechko, 47.

Oben, auf der Aussichtsplattform: Moez und Achmed, Anfang 30 und „vor zehn Jahren aus Tunesien gekommen“, sie trinken Heineken, lassen die Beine von einem Mauervorsprung baumeln. Vor ihnen: das Blau, das Licht. „Le paradis, non?“ Sie sagen es, als glaubten sie nicht ans Paradies.

„Wie soll man sich in Nizza einig werden?“, fragt Moez. Bei 350.000 Einwohnern in einer Küstenstadt, die mediterraner nicht sein könnte. Mit Hotels, die nicht vergehen, dem Royal, dem Westminster, dem Savoy. Bei dieser Kriminalitätsrate. Nizza, das lange schon „Dschihadistenhochburg“ genannt wird. Wo die Leute „aufstehen, zur Arbeit gehen und wieder in ihren Häusern verschwinden“, sagt Moez. „Das ist Nizza“, „Nice“.

Robert Marchand, 60.

Mehdi H., 12.

Natalia Otto, 57.

Fatima Charrihi, 62.

Mopeds, Wellen, „je suis“, „je sais“. Einzelne schwimmen im Meer, sonnen sich auf Kies. Wie das wohl ist: Winter an der Côte d’Azur? „Mag sein, dass der Strand seit dem 14. Juli leerer geworden ist“, sagt Marie Bonnecaze, Mitte 60, eine Frau mit Rayban-Brille und bunten Nikes. Sie sitzt auf einer der Bänke, die schmale Schatten auf die Promenade werfen. Mag sein, dass weniger Touristen kämen und Marion Maréchal-Le Pen, die Nachwuchshoffnung des Front National, hier um die Ecke wohne, „irgendwo da hinten“. Und sicher würden sich die Konflikte hier noch häufen, zwischen Reichen und Armen, Muslimen und Nichtmuslimen. „An der Küste ist man katholisch“, meint sie – und Araber und Katholiken seien „comme ça“: Sie führt die Spitzen ihrer Zeigefinger zusammen, als simuliere sie einen Aufprall.

Adib Boushifa, 51.

Narine Gasparyan, 34.

Carla Gaveglio, 48.

Saskia Schnabel, 29.

Sie käme trotzdem jeden Tag zur Promenade des Anglais, sagt Marie Bonnecaze. Um ein Stück auf und ab zu gehen und die Dinge zu sehen, die bleiben. Das Meer, sagt sie, „les couleurs“.

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