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Hausbesuch Ihre zwei Männer hatten Auschwitz überlebt. Doris Deutsch trägt deren Vermächtnis weiterDie Liebe hört niemals auf

Text und Fotos von Luciana Ferrando

Zu Besuch bei Doris Deutsch in Wiebelskirchen im Saarland.

Draußen: Rechts der Weggabelung geht es zum Freibad, links zum Friedhof. Die Römerstraße führt zu ihrem Haus. Davor wachsen Rosen, Zwergflieder, Fächerahorn.

Drinnen: Im Wohnzimmer stehen Menora und andere Zeichen jüdischen Lebens. Urkunden und Preise erinnern an Alex Deutsch – ihren vor fünf Jahren ver­­storbenen Mann, 97 wurde er, – und an sein Vermächtnis als ­Auschwitz-Überlebender. An der Wand hängen Bilder und Fotos. Auf einem ein Wehrmachtssoldat – Doris Deutschs Vater. Ein anderes Foto zeigt sie auf einer nach Alex Deutsch benannten Brücke. Über allem: ein Gemälde, auf dem das Ehepaar mit Friedenstaube abgebildet ist.

Alex: Wenn sie von ihm spricht, kommen ihr Tränen. Am Sterbebett versprach sie ihm, sein Vermächtnis weiterzutragen. Der Auftrag: Jugendlichen vom Holocaust zu erzählen und dabei auch von Alex Deutschs Lebensgeschichte. Was er in ­Auschwitz erlebte, wie er dem Todesmarsch entfloh, warum er später nach Amerika ging und wieder zurückkam. Seine Botschaft: „Lasst euch nicht in Hass und Gewalt hineintreiben, lernt, miteinander zu leben, nicht gegeneinander.“ Sie versprach ihm auch, stark zu sein.

Doris: Mit vier Jahren lernte sie den Tod kennen. Ihr Vater hatte sie im Krieg zu den Großeltern nach Esslingen geschickt. Diese erlaubten ihr nicht, weiter als bis zum Ende der Siedlung zu gehen. Einmal wollte sie doch weiter, ihre Spielfreunde waren dort. Bevor sie losging, gab es Bombenalarm und sie kroch unter den Tisch ihres Opas. Mit blutverschmierten Händen sah sie ihn bald darauf kommen. „Komm mit, sagte er. Ohne Erklärung zeigte er mir die Leichen meiner Freunde.“ Jahrelang begleitete sie das Bild der toten Kinder. 1944 bekamen die Großeltern einen Brief mit schwarzem Rand: Doris’Vater war im Holland gefallen. Sie wussten nicht, wie sie es der Achtjährigen sagen sollten. „Ich war stolz, dass ich alleine lesen konnte. Sie baten mich, den Brief vorzulesen. So erfuhr ich: Mein Papa ist tot.“

Doris und Karl: Geboren wurde Doris Deutsch vor 79 Jahren in Wiebelskirchen, wo sie jetzt auch wohnt. „Ich kenne sonst nichts.“ Mit 18 machte sie den Motorradführerschein, wurde „Fakturistin“, erstellte Rechnungen, Rabatte und Skonti für den Großhandel. Ihre Mutter war Hutmacherin. Da diese als alleinerziehende Witwe nur wenig Geld hatte, nahm sie noch einen Job als Kassiererin und Platzanweiserin im Kino an. Doris durfte sich alle Filme angucken. „Die Mörder sind unter uns“ war der erste, den sie sah. Im Kino lernte sie Karl Löb kennen – ihren ersten Mann. Welcher Film es war? Sie weiß es nicht mehr, weiß nur, dass sie den 27 Jahre älteren Mann attraktiv fand. 1958 heirateten sie. 13 Jahre später starb Löb – „an Schaden an Körper und Gesundheit aus Auschwitz“. Auch er hatte das Konzentrationslager überlebt, er war aber „zu sehr gezeichnet“ und erholte sich nie. „Über seine Erfahrungen im KZ konnte er nicht reden, wollte nur alles vergessen“, sagt Deutsch. „Karl war genau das Gegenteil von Alex.“

Alex und Karl: Alex Deutsch wurde nicht müde, Jugendliche vor totalitärem Denken zu warnen und von ­Auschwitz zu berichten. Er erzählte auch von Karl Löb. Alex und Karl sind heute wieder vereint auf dem jüdischen Friedhof in Neunkirchen. Im Leben sahen sich beide Männer das letzte Mal in Paris 1946. Alex durfte nach Amerika, Karl bestand die ärztliche Untersuchung für die Ausreise nicht. Zuvor waren sie gemeinsam in Magdeburg den Nazis entkommen. Die Alliierten hatten seit Tagen die Stadt bombardiert, die SS-Männer waren nervös, Alex, Karl und zwei andere KZ-Inhaftierte nutzten den Fliegeralarm und versteckten sich in einer Ruine. ­Auschwitz und den Todesmarsch nach Gleiwitz hatten sie hinter sich, ihre Frauen aber hatten nicht überlebt. Auch Alex’zweijähriger Sohn wurde von den Nazis ermordet. Zu Fuß gingen die beiden Männer bis nach Paris. Dort flog Alex nach St. Louis in den USA und Karl kehrte in seine Heimat im Saarland zurück, wo er eine junge Frau namens Doris im Kino traf.

Doris und Alex: Nach Karl Löbs Tod 1971 sollte Doris bezeugen können, dass er an den Spätfolgen von ­Auschwitz starb. Nur so wollte man ihr die Hinterbliebenenrente auszahlen. Sie wusste von Alex Deutsch, suchte ihn, schrieb ihm einen Brief, der ihn – aufgrund bürokratischer Fehler – erst sechs Jahre später erreichte. Alex Deutsch hatte seine zweite Frau verloren und antwortete Doris, er sei bereit, nach Deutschland zu kommen, um ihr zu helfen. Doris Deutsch wird rot und strahlt. „Dann waren wir ziemlich schnell verliebt.“ Die Beziehung hielt 33 Jahre bis zu Alex’Tod 2011. Die Liebe aber gehe weiter.

Karl und Alex: Komisch fand sie es damals nicht, dass beide Ehemänner solch extreme Situationen zusammen erlebt hatten. Es habe sich so ergeben. Sie seien ja ganz unterschiedlich gewesen. „Karl mochte nicht, dass ich Auto fahre. Bei Alex war ich immer Chauffeurin“, sie lacht. „Karl machte nicht viel im Haushalt, Alex backte Kuchen, räumte auf, spülte.“ Mit Alex sprach sie viel über Karl, überhaupt sprach sie viel und lernte, wie wichtig es ist, sich freizusprechen.

Doris: Sie habe immer gute Laune. „Ich hatte zwei Männer jüdischen Glaubens, ich bin Christin“, sagt Deutsch. Was andere darüber denken, war ihr egal. „Geschwätz gibt es sowieso überall!“ Nie war es ihr zu viel, nie dachte sie, „ich kann kein Leid mehr ertragen, ich kann nicht mehr“. Als Alex resignieren wollte, nachdem ein Mann ihm den Hitlergruß gezeigt hatte, überzeugte sie ihn, weiterzumachen. Und nun macht sie für ihn weiter. „Vielleicht bin ich doch stark.“

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