Hausärztin über Arbeit auf dem Land: „Eine andere Bindung zum Patienten“

Kristina Spöhrer ist Hausärztin in Winsen/Luhe. Der Ärzt*innenmangel auf dem Land habe verschiedene Gründe, sagt sie.

Blick in ein Wartezimmer, zu sehen sind nur die Beine von Menschen, die auf Stühlen sitzen. Jeder Stuhl ist besetzt

Hier kann es schon mal voll werden: Wartezimmer bei einem Arzt Foto: Patrick Pleul/dpa

taz: Frau Spöhrer, die Ärztin auf dem Land, die immer erreichbar sein muss, auch am Wochenende – ist das ein Klischee oder noch die Wirklichkeit?

Kristina Spöhrer: Nein, das ist nicht mehr so. Da gibt es einen großen Strukturwandel. Ich kann die Menschen als Hausärztin begleiten und sie gut versorgen, obwohl ich nicht rund um die Uhr zur Verfügung stehe. Ich kann mit meinen Patienten ja vereinbaren, wann Sprechzeiten sind, wann ich erreichbar bin. Und darüber hinaus gibt es eine Notfallversorgung.

Was unterscheidet denn die Ärztin auf dem Land von der in der Stadt?

Ich habe zwischendurch noch ländlicher gearbeitet als jetzt und ich denke, je ländlicher man ist, je mehr man der letzte Ansprechpartner ist, der überhaupt noch zu erreichen ist, desto mehr muss man die gesundheitlichen Probleme der Patienten lösen. Da kommt häufiger die Nachfrage: „Können wir das nicht hier machen? Muss ich wirklich zum Röntgen? Da fahre ich eine Dreiviertelstunde hin.“ Dann gibt es keine Termine beim nächsten Facharzt. Und je mehr solcher Probleme ich lösen muss, desto schwerer fällt natürlich die Abgrenzung. Andererseits, so habe ich es erlebt, je städtischer die Menschen leben, desto mehr gehen sie mal dort und mal hier hin zum Arzt. Da laufen dann eher Behandlungen parallel. Das finde ich unglücklich, auch weil eine gute Behandlung dann schwieriger wird.

Warum sind Sie Hausärztin in einer ländlichen Region geworden?

Die Grundsatzentscheidung, dass ich mich gerne niederlassen möchte, hat sich im Rahmen meiner Weiterbildungszeit zur Allgemeinmedizinerin entwickelt. Mit einer eigenen Niederlassung kann man noch am ehesten die Rahmenbedingungen für sich selbst festlegen.

Und warum ist es Winsen geworden?

Ich hatte einen Teil meiner Weiterbildung hier absolviert und war mit der Praxis in Kontakt geblieben. Und weil sie dann jemanden gesucht haben, bot es sich an, hier einzusteigen. Ich habe mich hier immer sehr wohl gefühlt und die Praxis ist von meinem Zuhause aus gut zu erreichen.

Aber das Risiko ist auch recht hoch, oder? Sie sind ja selbstständig.

Der Wunsch, selber gestalten zu können, ist bei mir einfach sehr groß. Wenn ich mir vorstelle, in einer Praxis zu arbeiten, in der eine andere Patientenbindung gelebt wird als bei uns, das würde mir sehr schwer fallen.

42, ist Hausärztin in Winsen/Luhe und unter anderem Sprecherin des Forums Hausärztinnen für Niedersachsen. Sie hat zwei Kinder und lebt in Lüneburg.

Was genau meinen Sie, wenn Sie „Patientenbindung“ sagen?

Wir haben in unserer Praxis Hausarztverträge. Ich finde einfach, wir brauchen dieses koordinierte System, wo Patienten einen Ansprechpartner haben, der Bescheid weiß über seine Geschichte. Das macht für mich ganz viel Hausarztsein aus! Denn so ergibt sich eine ganz andere Bindung zum Patienten und letztendlich zu ihm als Menschen. Ich als Hausärztin sehe mich als zentraler Dreh- und Angelpunkt in der Gesundheitsfürsorge der Patienten und möchte erster Ansprechpartner sein, der dann die weitere Behandlung und Kontakte, auch zu Fachärzten, koordiniert. Und gemeinsam mit meiner Kollegin kann ich das hier so umsetzen.

Sie arbeiten also nicht allein. Das ist bestimmt ein Vorteil. Ich kann mir vorstellen, dass einige die Niederlassung auf dem Land fürchten, weil sie sich allein gelassen fühlen könnten.

Ich genieße es total, nicht alleine zu arbeiten. Wenn ich eine medizinische Fragestellung habe, kann ich meine Kollegin hinzurufen. Wenn mein Kind plötzlich krank ist, kann ich sie bitten, für mich einzuspringen. Das ist sehr wichtig. Das war früher sicherlich anders, da hieß es: Das sind meine Patienten, pfusch mir nicht rein. Aber da gibt es einen Sinneswandel. Die Vernetzung zwischen den Kollegen und Kolleginnen ist sehr wichtig.

Nun fehlen auf dem Land aber Ärzt*innen. Was glauben Sie, woran liegt das?

Ich glaube, da kommen ein paar Sachen zusammen. Die Allgemeinmedizin wird meiner Meinung nach während der universitären Ausbildung nach wie vor stiefmütterlich behandelt. Die Institute für Allgemeinmedizin an den Unis bestehen im Vergleich zu anderen Fakultäten und Instituten noch nicht so lange, sodass wir auch deshalb einen Mangel an Kolleginnen und Kollegen haben, die die Allgemeinmedizin als Fach für sich als Möglichkeit sehen. Hinzu kommt, dass es ja auch in anderen ländlichen Bereichen einen Strukturwandel gibt. Die Post ist nicht mehr vor Ort, die Bank nicht mehr, keine Kita oder Schule. Und überall, wo eine solche Infrastruktur wegbricht, ist es auch schwerer, eine Hausärztin oder einen Hausarzt zu finden, zumal, wenn diese keine familiäre Anbindung an den Ort haben oder aus der Region selbst stammen.

Gilt das auch für andere Fachrichtungen?

Die Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen hat kürzlich eine Studie vorgestellt, in der auch bei Augenärzten, HNO-Ärzten, Hautärzten, Nervenärzten und Urologen eine Unterversorgung in den ländlichen Bereichen prognostiziert wird. Aber generell ist es jetzt schon so, dass die ländliche Versorgung schwerpunktmäßig von Hausärzten getragen wird.

Welche Folgen hat der Ärzt*innenmangel auf dem Land für die Menschen, die dort leben?

Wir erleben immer wieder, dass Patienten auf dem Land, aber inzwischen auch in sozialen Brennpunkten in Städten,keinen Hausarzt finden und sie uns bei ihrem ersten Kontakt mit der Praxis berichten, dass sie drei Jahre gesucht haben. Gerade bei multimorbiden Patienten, also Patienten, die mehrere Erkrankungen haben, wird es so schwierig, regelmäßige Kontrollen durchzuführen. Und es ist auch schlecht für den Verlauf der Erkrankung, wenn es keine Kontinuität in der Behandlung gibt. Das ist natürlich problematisch. Es ist eine Herausforderung, die Versorgung in ländlichen Bereichen zu sichern. Dafür braucht es Lösungskonzepte.

Haben Sie konkrete Ansätze?

Da muss vieles Hand in Hand gehen. In Bleckede beispielsweise gibt es einen Ruf-Fahrdienst der Kommune, der die Menschen zum Arzt bringen kann. Wenn die Kommunen wieder einen Hausarzt haben wollen, müssen sie sich überlegen, was sie anbieten können. Zum Beispiel einen Raum anmieten, in dem der Arzt aus dem Nachbarort ein- oder zweimal die Woche Sprechstunde hat.

Es gibt auch Ideen, die schon beim Studium anfangen, beispielsweise die Landarztquote...

Ja, solche Ansätze gibt es, aber sie werden nicht immer konsequent verfolgt. Da wird lange diskutiert, zum anderen ist es eine Kostenfrage und dann gibt es plötzlich vermeintlich drängendere Probleme. Ich denke, es gibt nicht nur den einen Ansatz, der hilft. Da müssen viele Ansätze ineinandergreifen.

Könnte nicht vielleicht auch die Bezahlung eine Rolle spielen? Hausärzt*innen verdienen sicherlich weniger als Herzchirurg*innen.

Ich glaube schon. Als Medizinstudent spielt bei der Wahl der Fachrichtung sicherlich auch eine Rolle, wie viel ich wo verdienen kann. Es ist menschlich, dass man sich für Wege entscheidet, die besser vergütet werden. Hier müssen Krankenkassen und Politik letztlich entscheiden, welche Gelder wofür ausgegeben werden sollen.

Als ein Grund für den Ärzt*innenmangel wird der steigenden Frauenanteil in dem Beruf angeführt. Frauen würden andere Lebensmodelle wählen als Männer, eventuell weniger Verantwortung übernehmen wollen. Was halten Sie davon?

Ich finde, man sollte sich freuen, dass so viele Frauen Ärzt*innen werden wollen. Dieses Argument ist vorgeschoben. Ich erlebe in der gesamten Gesellschaft einen Wandel in der Frage, wie Beruf und Familie verstanden werden. Ich glaube nicht, dass männliche Kollegen es erstrebenswert finden, eine 80-Stunden-Woche zu haben und ihre Familie nicht mehr zu sehen. Bei allen Kollegen, mit denen ich spreche, egal ob Männer oder Frauen, ist der Anspruch vorhanden, Teil der Familie und nicht nur ein Schatten zu sein, der zu Hause mal durchgeistert.

Sind die Strukturen des Ärzt*innenberufs also einfach zu veraltet?

Wir kommen aus einer Zeit, in der 36-Stunden-Schichten in der Klinik die Regel waren, man den Chefarzt nicht zur falschen Zeit ansprechen durfte und es extreme Hierarchien gab. Die Patientenkommunikation lief in der Regel so: Ich bin Doktor, du Patient, und ich entscheide. Das alles bricht auf und ich persönlich begrüße das sehr. Für mich war das zum Beispiel bei meiner Ausbildung in der Klinik sehr schlimm. Daher fiel für mich mit der Geburt meiner Kinder auch die Entscheidung, die Klinik zu verlassen und die Selbstständigkeit anzustreben. Ich habe da Kolleginnen gesehen, die versucht haben, im Krankenhaus Teilzeit zu arbeiten. Die sind nur umhergerannt, um ja nur die Aufgaben zu schaffen. Aber ich glaube, auch da kommt viel Bewegung rein. Es gibt auf Twitter beispielsweise die Bewegung „Twankenhaus“. Da wird, wie ich finde, sehr positiv diskutiert, wie wir das System verändern können.

Da, wo für Praxen keine Nachfolger*innen gefunden werden, kaufen auch private Konzerne Arztsitze auf. Was halten Sie davon?

Das ist im Städtischen deutlich ausgeprägter als im Ländlichen. Hamburg beispielsweise muss da sehr aufpassen. Das ist eine sehr ungute Entwicklung. Denn was treibt denn einen Konzern dazu, einen Arztsitz zu kaufen? Wahrscheinlich das Ziel, Geld zu erwirtschaften, manchmal auch noch für Aktionäre. Da sollte man sich wirklich fragen, ob man das als Gesellschaft will.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.